Es ist Dienstag, der 30. März 2021. Seit Januar bin ich durchgängig im Homeschooling, der gesamte Stundenplan wird 1:1 über ein Videokonferenzsystem unterrichtet. Einige Tage zuvor war ich an der Schule, um mit ausreichend Abstand mein Halbjahreszeugnis abzuholen. Im Nachhinein betrachtet eine mehr als absurde Situation. Doch Corona macht letztlich auch deutlich, wie sehr wir eine Bildungswende brauchen.
Vom digitalen Bildungsgipfel zur Bildungswende
Zu jener Zeit bin ich in der 10. Klasse, habe gerade meine Leistungskurse für die Jahrgangsstufe gewählt und bin Zweiter Schülersprecher. Während alle meine Mitschülerinnen und Mitschüler bereits ihre wohlverdienten Osterferien genießen, treffe ich mich am späten Nachmittag noch mit der damaligen Ersten Schülersprecherin und meiner Schulleiterin. Gemeinsam wollen wir ein neues Projekt vorbesprechen. Meine Schulleiterin macht es kurz: Sie möchte einen digitalen Bildungsgipfel organisieren.
Die Meinung von Schülerinnen und Schülern soll endlich gehört werden. Über Wochen hinweg organisieren wir den digitalen Bildungsgipfel. Bereits während den Vorbereitungen lerne ich wahnsinnig viel: Vordergründlich Social Skills wie Arbeiten im Team, kritisches Denken und Kommunikation. Aber auch, welche Schulen und Bildungseinrichtungen es bereits gibt, die Bildung anders denken.
Zur Person
Jon Buchmüller ist Landesvorstandsmitglied der Liberalen Schüler Baden-Württembergs und engagiert sich parteipolitisch bei der FDP. Zudem ist der 17-Jährige Mitglied im beratenden Kuratorium des educon Bildungsgipfels der Rhein-Neckar-Region. Aufgewachsen ist Buchmüller in Vaihingen an der Enz bei Stuttgart. Sein politisches Interesse wurde durch die Teilnahme am Wettbewerb Jugend debattiert in Baden-Württemberg endgültig geweckt. Daraufhin folgte ein zweijähriges Engagement als Schülersprecher seiner Schule.
Schulentwicklung nachhaltig und partizipativ denken
Uns als Schule hat der Bildungsgipfel den endgültigen Anstoß dafür gegeben, Schulentwicklung nachhaltig und partizipativ zu denken. Noch zwei weitere Schuljahre durfte ich diesen Weg begleiten.
In der Folgezeit begann ich, mich parteipolitisch zu engagieren, startete eine Initiative an das baden-württembergische Kultusministerium und war ehrenamtliches Teammitglied in einem Bildungs-Startup. Vor allem habe ich mich mit vielen Akteuren im bildungs-(politischen) Kontext vernetzt, mit ihnen gesprochen und diskutiert. Ich kann festhalten: Nur durch die Schule habe ich begonnen, das Schulsystem kritisch zu hinterfragen.
In zahlreichen Gesprächen und Diskussionen sind mir einige Dinge immer wieder aufgefallen.
Mit Egoismus gelingt die Bildungswende nicht
Die bildungspolitische Diskussion ist geprägt von viel Egoismus. In Diskussionen geht es dann nicht um einen gemeinschaftlichen Austausch, sondern um Selbstdarstellung. Die eigene Idee ist immer die Beste und löst natürlich alle Probleme. Das habe ich nicht nur in Diskussionen oder Gesprächen erlebt, bei denen ich zugehört habe, sondern auch in jenen, an welchen ich selbst beteiligt war. So gelingt die Bildungswende nicht.
Meine Hochachtung genießt Patrick Neiss, ehemaliger Geschäftsführer des Cornelsen Verlags. Gemeinsam mit ihm saß ich in einer Diskussion auf der Bildungsmesse Learntec im Mai 2023. Er sei heute nicht da, um seine eigene Initiative vorzustellen, sondern um zu diskutieren, sagte er. Diese Aussage ist mir sehr positiv im Gedächtnis geblieben, da sie sehr selten ist. Im Gegensatz dazu nehme ich bei anderen Egoismus und in Teilen auch Selbstüberschätzung wahr.
So gewinnbringend sie auch sein mögen, Kooperationen auf einer sachlichen Ebene sind immer dann nicht möglich, wenn die persönliche Ebene einzelner Akteure nicht stimmt.
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Keine Bildungswende ohne gemeinsame Vision
Es fehlt eine gemeinsame Vision aller Akteure. Das merke ich an mir selbst: Sobald ich gefragt werde, was meine persönliche Vision der Bildung im 21. Jahrhundert ist und wie wir diese mit einer nachhaltigen und zukunftsweisenden Bildungswende erreichen können, komme ich oft ins Straucheln.
Die Planlosigkeit liegt daran, dass sich bisher niemand getraut hat, alle kleinen Visionen und Ziele zusammenzufassen, auf einen Nenner zu bringen und Kompromisse zwischen allen Akteuren auszuhandeln. Das Ganze ist selbstverständlich eine riesige Aufgabe, denn die Visionen Einzelner weichen oft stark voneinander ab.
Für die einen ist das Ziel lediglich ein Bildungssystem mit ausreichend Lehrkräften – darüber hinaus sehen sie keine Probleme. Andere fordern, von Grund auf eine neue Lernkultur zu etablieren, die einhergeht mit dem kritischen Hinterfragen von Noten, Fächern sowie jahrzehntelang nicht geänderten Abläufen und Machtstrukturen. Ich persönlich bin Teil der zweiten Fraktion.
In einer Sache ist sich ein Großteil der Akteure einig und auch ich nehme das so wahr: Die Vision muss diejenigen, für welche das Bildungssystem existiert, in den Fokus nehmen. Jene junge Menschen, deren Zukunftsperspektiven und Wohlergehen von einer erfolgreichen Schulzeit abhängen. Werden nun alle kleinen Visionen zusammengetragen, bin ich mir sicher, dass am Ende eine große Struktur steht, mit der wir nachhaltig und zukunftsweisend eine Bildungswende umsetzen können.
Es fehlt ein Netzwerk von Problemlösern
Schließlich – und das ist einer der größten Mängel – fehlt ein Netzwerk von Problemlösern. Mir ist bewusst, dass sich die Probleme von Bildungseinrichtung zu Bildungseinrichtung stark unterscheiden. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass es Probleme gibt, mit der eine Vielzahl an Institutionen zu kämpfen hat. Viele werden daran verzweifeln, wenige werden gute Lösungen finden, mit den Herausforderungen umzugehen.
Beispiele hierfür sind eine gewinnbringende Kommunikation mit Eltern oder auch der Umgang mit steigenden datenschutzrechtlichen und bürokratischen Hürden. Gute Lösungen sehe ich nur bei wenigen Einrichtungen. Ein Problemlöser-Netzwerk könnte hier gigantische Abhilfe leisten und ressourcensparend den Grundstein für die Bildungswende legen.
In einer für mich persönlich sehr intensiven Zeit der vergangenen Monate habe ich gemerkt: Wir haben eigentlich alles, was wir brauchen. Nun liegt es am Wollen und Machen. Jetzt gilt es, sich nicht mehr auf sich selbst zu konzentrieren, sondern zu einer Arbeitsweise zu kommen, in der wir voneinander und miteinander lernen, um gemeinsam eine Vision für die Bildungswende zu entwickeln.
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