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Chefs auf dem Prüfstand: Die Lücke in der Wahrnehmung

Führungskräfte sollten sich darüber bewusstwerden, dass sie häufig anders führen, als sie von sich denken – und daher an Wirksamkeit verlieren.
Gute Führung? Wie Chefs ihren Beschäftigten gerecht werden können. (jco/AI)
Gute Führung? Wie Chefs ihren Beschäftigten gerecht werden können. (jco/AI)

„Mein Chef ist so unfähig!“ Sicherlich haben Sie diesen Satz schon öfter gehört! Wer kennt nicht Menschen in seinem Freundes- und Bekanntenkreis, die mit Ihrem Vorgesetzten unzufrieden sind. Ich würde behaupten, die Mehrheit der Mitarbeitenden kommt mit dem Führungsstil ihres Chefs oder ihrer Chefin nicht klar.

Das Groteske an der Sache ist, dass die meisten Führungskräfte das in der Regel gar nicht merken: Glauben viele Führungskräfte von sich, dass sie die gesamte Klaviatur der Führungsstile beherrschen und situationsbezogen anwenden, können das die Teammitglieder häufig nicht bestätigen. Das heißt: Viele Führungskräfte führen nicht so wirksam, wie sie selbst denken.

Führung sollte messbar sein

Das individuelle Führungsstil-Portfolio messbar zu machen, ist mir daher ein großes Anliegen. So können Führungskräfte erkennen, inwiefern ihre Wahrnehmung ihrer Führung von dem abweicht, wie sie von außen gesehen werden. So kürzlich geschehen bei einem Klienten von mir.

Er ist Leiter der Entwicklungsabteilung eines großen Automobilzulieferers und hat sich darauf eingelassen, an einer Online-Befragung zum Thema „Führung“ teilzunehmen. Außerdem stimmte er zu, dass ihn seine Mitarbeitenden hinsichtlich seiner Führung beurteilten. Bei Weitem hätte dieser Klient nicht mit dem gerechnet, was sich ihm offenbarte: Selbst- und Fremdwahrnehmung klafften weit auseinander.

Die Autorin

Dr. Cornelia Tanzer ist seit mehr als 20 Jahren auf Managementdiagnostik und Führungskräfteentwicklung spezialisiert. Die Diplom-Psychologin ist systemischer Coach und hat über den praktischen Nutzen von Development Centern promoviert. Sie war Partnerin in einem führenden Beratungsunternehmen und ist heute Geschäftsführerin mehrerer Firmen: der Cornelia Tanzer GmbH mit dem Schwerpunkt Assessment, Development und Tools, der FLD fe:male leadership development GbR, die Unternehmen auf ihrem Weg zu Gender Equality voranbringt, und der XLNC Leadership GmbH, die mit online gestützten Instrumenten Führungskräfte in ihrer Entwicklung unterstützt. Tanzer berät und arbeitet für Kunden wie Lufthansa, Provinzial, Diakonie Deutschland, Vodafone oder E.ON. Mit Jörg Mildner und Jens Vogt hat Tanzer das Buch „LEAD NOW! Wirksam führen im 21. Jahrhundert“ geschrieben.

Full Range of Leadership: Sechs verschiedene Führungsstile

Der Klient schätzte sich selbst so ein, dass er die sogenannte Full Range of Leadership beherrscht. Gemeint sind damit sechs verschiedene Führungsstile – von normativ bis inspirativ –, die je nach Situation passend zum Einsatz kommen sollen. Bei unerfahrenen Mitarbeitenden oder in einer Krise, wenn Dringlichkeit vorherrscht, sind beispielsweise klare Ansagen gefordert. Bei erfahrenen Teams ist eher der partizipative Führungsstil sinnvoll – vorausgesetzt, die Mitarbeitenden haben die nötigen Handlungsspielräume.

Wenn lange Meinungsfindungsprozesse zu keinem Ergebnis führen würden und Aufwand und Nutzen einer Diskussion im Ungleichgewicht stehen, ist wiederum der direktive Führungsstil gefragt: Wer so führt, formuliert eine klare Erwartungshaltung, räumt seinen Mitarbeitenden jedoch einen hohen Freiheitsgrad ein, um das gewünschte Ziel zu erreichen.

Der integrative Führungsstil schließlich fokussiert eine harmonische Zusammenarbeit und integriert unterschiedliche Meinungen, Persönlichkeiten und interkulturelle Aspekte. Er ist insbesondere dann angebracht, wenn Aufgaben eine gemeinsame Teamleistung erfordern und alle Mitarbeitenden um die individuell vorhandenen Stärken im Team wissen.

Die Führungskraft als Coach und Inspirator

Wären noch der coachive und der inspirative Führungsstil zu nennen. Bei Ersterem stellt die Führungskraft die Entwicklung der Mitarbeitenden in den Mittelpunkt. „Wer bist Du, und wie kannst Du (über Dich hinaus) wachsen?“, so die Kernfrage hier. Die jeweiligen Stärken und Entwicklungspotenziale der Mitarbeitenden werden betrachtet, wobei die Führungskraft Reflexionen und Perspektivwechsel anstößt und somit Hilfe zur Selbsthilfe bietet. Nach der Maxime „fordern und fördern“ lässt sie ihre Mitarbeitenden an herausfordernden Aufgaben wachsen und unterstützt sie.

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Inspirativ führt eine Führungskraft, wenn sie die gemeinsame Mission und den übergeordneten Sinn der Arbeit kommuniziert und so die Eigenmotivation der Mitarbeitenden aktiviert. Sie thematisiert die Attraktivität des angestrebten Zielzustandes und schafft somit Begeisterung seitens des Teams und erzeugt zudem langfristige Orientierung. Gerade in Veränderungsprozessen und bei der emotionalen Bewältigung von Krisen kann dieser Führungsstil effektiv sein.

Die Auswertung tut oft weh

Besagter Klient war davon überzeugt, dass er inspirativ führt, mit Blick auf den großen Change die Vision des Unternehmens hochhält und dabei allen Mitarbeitenden genug Leine gibt, um auf das gemeinsame Ziel hinzuarbeiten. Doch die Auswertung seiner Mitarbeitenden spiegelte das nicht wider.

Im Gegenteil: Hinsichtlich des partizipativen und inspirativen Führungsstils gab es enorme Abweichungen. Auch der coachive Stil meines Klienten wurde kaum als solcher wahrgenommen. Stattdessen beschrieben die Teammitglieder den Manager als jemanden, der klare Ansagen macht und den Mitarbeitenden kaum Freiraum gibt. Für ihn war dies zunächst eine bittere Erkenntnis. Doch dies ist im Allgemeinen der erste Schritt zur Einsicht und Reflexion – und zur Veränderung.

Wichtig ist der Austausch zum Selbst- und Fremdbild

Wichtig ist daher auch, tiefer in den Schmerz hineinzugehen und sich als Führungskraft mit den Mitarbeitenden über das Selbst- und Fremdbild auszutauschen – und zwar anhand konkreter Beispiele.

So hat es auch bei meinem Klienten stattgefunden: In einem gemeinsamen Workshop schilderte er Situationen, von denen er meint, coachiv geführt zu haben. Und er schilderte Situationen, in denen er seiner Meinung nach inspirativ unterwegs war. Dabei zeigte sich unter anderem: Mein Klient wollte die Vision, die im Vorstand entwickelt wurde, bei möglichst vielen Gelegenheiten im Team kommunizieren. Da er jedoch Nutzen und Vorteile dieser Vision für die Teammitglieder nicht vermittelt hat, war diese ständige Wiederholung für sie wenig inspirierend. Eine wichtige Erkenntnis!

Solche Aha-Momente sind meist der erste Schritt, um die jeweiligen Führungsstile wirklich effektiv einsetzen zu können – und letztlich der Schlüssel für Erfolg. Denn wer vier der sechs Führungsstile gut beherrscht und für die Mitarbeitenden erlebbar macht, so zeigen umfangreiche statistische Berechnungen, steigert die Leistungsmotivation des gesamten Teams!

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