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“In den Werften zerbrach der Sozialismus”

Historiker Philipp Ther über die Werftenkrise in Mecklenburg-Vorpommern, Mechanismen der Globalisierung und eine Zukunft mit Windrädern
Der Wettbewerb im globalen Schiffsbau ist hart. (jco/AI)
Der Wettbewerb im globalen Schiffsbau ist hart. (jco/AI)

Am 1. März 2022 eröffnet das Insolvenzverfahren für die MV Werften. Das Unternehmen bezeichnet sich selbst als “Herz der maritimen Industrie in Mecklenburg-Vorpommern”. An den Standorten Wismar, Rostock und Stralsund hat es unter anderem Kreuzfahrtschiffe gebaut. Mit der Insolvenz der MV Werften steht ein Kapitel deutscher Industriegeschichte vor dem Ende. Darüber sprechen wir mit Philipp Ther, 54. Er lehrt mittel- und osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und hat sich intensiv mit der Globalisierung der Schiffbauindustrie und ihren Umbrüchen beschäftigt.

In seinem neuen Buch „In den Stürmen der Transformation“ befasst sich Ther mit den unterschiedlichen Strategien zweier Werften in Polen und Kroatien beim Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft. Der Historiker hat für seine Studie nicht nur Betriebsarchive ausgewertet, sondern auch mit ehemaligen Beschäftigten geredet. Herausgekommen ist eine einzigartige sozialhistorische Untersuchung.

Ein Interview über den Strukturwandel West, die Transformation Ost, die Zukunft der europäischen Werften zwischen Spezialschiffbau sowie Windkraftanlagen, und was sich aus der Wende im Schiffbau für den Übergang zur klimaneutralen Wirtschaft lernen lässt.

Philipp Ther lehrt an der Universität Wien. (Foto: Uni Wien)
Philipp Ther lehrt an der Universität Wien. (Foto: Uni Wien)

Herr Ther, die MV Werften stehen vor der Insolvenz. Das Unternehmen kann im Markt nicht mehr bestehen. Der Schiffsbau gilt als Paradebeispiel der Globalisierung. Inwiefern?

Der Schiffbau wurde sehr früh und sehr radikal globalisiert. Das liegt unter anderem daran, dass Japan und dann noch viel stärker Südkorea ab den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts den Schiffbau als Kern industrieller Entwicklung verstanden haben. China folgte dem Beispiel ein Jahrzehnt später. Diese Globalisierung der Produktion fällt in eine Zeitspanne, in der sich auch die Werften im damals sozialistischen Osteuropa, in der DDR, Polen und dem damaligen Jugoslawien, dem Weltmarkt geöffnet haben, um Devisen zu erwirtschaften. Die Globalisierung hat die sozialistischen Staaten weit vor 1989 erfasst.

Ihre Studie untersucht exemplarisch zwei Betriebe: Die Uljanik-Werft im kroatischen Pula, noch 1856 unter habsburgischer Herrschaft aufgebaut, sowie die Werft „Pariser Kommune“ in Gdynia, eine Neugründung im sozialistischen Polen. Was machte den Schiffsbau für sozialistische Staaten so interessant?

Es ging in Polen, wie übrigens auch nach 1945 in Mecklenburg-Vorpommern, darum, agrarische Gebiete in Industrieregionen zu verwandeln. Das bot den ehemaligen Landarbeitern und später ihren Kindern soziale Aufstiegschancen. Der Schiffbau war der Kern einer sozialistischen Modernisierung. Die Werften sollten Devisen bringen, erwirtschafteten aber Verluste. Da viele Investitionen mit Westkrediten bezahlt wurden, trugen sie zur Überschuldung Polens und der DDR bei. Mit und in den Werften zerbrach der Sozialismus.

Zur Person

Der Forscher: Philipp Ther wächst im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet auf. In Regensburg, München, Washington und Berlin studiert er Geschichte und Politikwissenschaften. Er leitet das Research Center for the History of Transformations (Recet).

Die Studie: Für sein Buch „In den Stürmen der Transformation. Zwei Werften zwischen Sozialismus und EU“ (Suhrkamp, 20 Euro) erforschten Ther und sein Team die Geschichte der Uljanik-Werft im kroatischen Pula sowie der Werft „Pariser Kommune“ im polnischen Gdynia beim Übergang nach der Wende in die Marktwirtschaft.

Die Werften: Die Schiffsbauanlage in Pula wird 1856 unter habsburgischer Herrschaft gegründet. In jugoslawischer Ära zwischen 1945 und 1990 setzt die Werft stark auf den Export, etwa von Öltankern. Nach der Wende folgen Spezialbauten wie Baggerschiffe. 2019 folgt das Aus. In der Pandemie wurden Kreuzfahrtschiffe dort geparkt. Eine Zukunft als Marina wird geprüft. Die Werft in Gdynia muss 2009 Insolvenz anmelden, übrig auf dem Gelände bleiben Nachfolgebetriebe, eines fertigt Fähren mit umweltfreundlichem Hybrid-Antrieb.

Systemübergreifend hat die Ölkrise in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Werften in Ost und West getroffen. Wie reagierten die Staaten auf die Krise?

Es kam zu einem gewaltigen Nachfrageeinbruch. Der Markt für Öltanker ist damals auf einen Schlag zusammengebrochen. Aber die Reaktionen waren unterschiedlich: Die Schiffbaubetriebe im Westen von England über Bremen bis Kiel haben früh eine Restrukturierung begonnen und einen Stellenabbau eingeleitet. Der sozialistische Osten setzte weiter auf Expansion, auch um Devisen zu erwirtschaften. Die Werft in Gdynia etwa erhielt 1976 das erste moderne Trockendock. Die Belegschaft wurde sogar noch ausgeweitet. Das galt auch für die Vorläufer der MV Werften in der DDR. Als die Mauer fiel, waren im heutigen Mecklenburg-Vorpommern 55.000 Menschen nur im Schiffbau beschäftigt. Hinzu kommen die Zuliefererbetriebe.

Die Werften waren viel mehr als Arbeitgeber. Sie entwickelten sich zu einer Art Vollversorger und damit einer Lebenswelt.

Worin liegt der Unterschied zwischen dem Strukturwandel im alten Westen und der Transformation im ehemals sozialistischen Osten?

Der Strukturwandel West war stark von staatlichen Maßnahmen flankiert und sozial abgefedert, mit Abfindungen und Umschulungsprogrammen auf der einen Seite und einer aktiven Industriepolitik auf der anderen, um den Kern neuer Industrien zu entwickeln. In der postkommunistischen Transformation verdichteten sich all diese Entwicklungen wie in einem Brennglas. Restrukturierung und Abbau von Kapazitäten erfolgten sehr schnell. Es gab den Versuch den Niedergang mit staatlichen Interventionen aufzuhalten. Zugleich sollten die Betriebe für Privatisierungen fit gemacht werden. Das ging relativ lange gut. Erst nach der Jahrtausendwende kam das endgültige Aus. Die Transformation Ost schlug viel radikaler zu. Eine zukunftsweisende Industriepolitik gab es im Osten viel weniger.

Was folgt daraus für die Standorte der MV Werften in Deutschlands Norden?

Als Entwicklungsperspektive wird der Bau von Windkraftanlagen erwogen. Im benachbarten Stettin ist das zumindest vorübergehend gelungen. Vielleicht bietet die grüne Transformation für die MV Werften in diesem Segment dauerhafte Chancen.

Der aus der Werftarbeiterstadt Rostock stammende Soziologe Steffen Mau hat in seinem Buch „Lütten Klein“ die gesellschaftliche Funktion des Unternehmens im Sozialismus betont. Wie haben Sie das in den Gesprächen mit ehemaligen Beschäftigten erlebt?

Die Werften waren viel mehr als Arbeitgeber. Sie entwickelten sich zu einer Art Vollversorger und damit einer Lebenswelt. Das beginnt mit der Kantine, geht weiter über die Ferienheime und den Bau von Betriebswohnungen. In Polen funktionierten die Werften im Sozialismus auch als Einkaufsgenossenschaft, die für ihre Arbeiter Lebensmittel organisierten. Das hat den Alltag der Menschen sehr stark geprägt und sie zusammengeschweißt. Das kennt man auch aus dem Westen: Opelianer in Rüsselsheim, Aniliner bei BASF in Ludwigshafen oder Beschäftigte von Siemens und VW. Die Identifikation mit dem Betrieb war viel höher. Der Betrieb hatte ganz andere Funktionen als ein heutiges Unternehmen, das rein auf Effizienz und Gewinnmaximierung getrimmt ist.

Es folgte Sanierung auf Sanierung. Bis der Betrieb nur mehr ein Unternehmen war. Das war effizient. Aber das hat dazu beigetragen, dass die Beschäftigten sich nicht mehr mit dem Betrieb identifizieren.

Welche Konsequenz hatte der Zusammenbruch der großen Kombinate für die Beschäftigten?

Die Werften wurden auf Sanierung getrimmt, die Ferienheime wurden verkauft. Es folgte Sanierung auf Sanierung. Bis der Betrieb nur mehr ein Unternehmen war. Das war effizient. Aber das hat dazu beigetragen, dass die Beschäftigten sich nicht mehr mit dem Betrieb identifizieren. Um es mit Karl Marx zu sagen: Es folgte eine Entfremdung. Selbst Nachfolgebetriebe, die wie in Polen erfolgreich sind, fertigen im Rahmen der globalen Arbeitsteilung nur noch Nischenprodukte wie Schiffsbrücken. Die Beschäftigten stellen nur noch Komponenten her, aber sie bauen kein ganzes Schiff mehr. Sogar für Ingenieure und Facharbeiter, die heute mehr verdienen als früher, schrumpft die Arbeit zum bloßen Job. Der Beruf bietet keine Erfüllung mehr. Die häufigen Besitzerwechsel zermürbten Belegschaft und Führung. Insofern regte sich auch kaum noch Widerstand, als beide Werften schließlich dicht machten.

In beiden Fällen Ihrer Studie, in Gdynia und Pula, erfolgte die Insolvenz ein halbes Jahrzehnt nach dem EU-Beitritt. Auch, weil das strenge EU-Wettbewerbsrecht staatliche Hilfen stark reglementiert. Speist sich auch daraus in Teilen Polens der Unmut über die EU?

Die Regierungspartei PiS um Jaroslaw Kaczy?ski hängt einer Verschwörungstheorie an, wonach die EU und Angela Merkel das Aus der polnischen Werften provoziert hätten, auch um die deutsche Industrie zu schützen. Das trifft nicht zu. Aber ein Teil der Arbeiterschaft ist für solche Mythen empfänglich.

Von Rotterdam in den 90ern mit Pim Fortuyn über Hamburg mit dem Aufkommen der rechten Schill-Partei ein Jahrzehnt später: Hafenstädte erleben nicht nur unmittelbar die Folgen der Globalisierung, sie sind auch Seismographen gesellschaftlicher Entwicklungen. Trifft das auch auf Gdynia und Pula zu?

Weniger. Pula ist ein Sonderfall. Die Stadt in Istrien war zeitweise italienisch, es gibt dort eine starke regionale Bewegung. Das nationalistische Vorgehen von Franjo Tudjman wurde dort eher kritisch betrachtet. Auch für Gdynia und das benachbarte Danzig gilt: Beide Städte sind liberale Hochburgen. Aber in der Tat ist es so, dass sehr viele Arbeiter rechtspopulistisch wählen. An anderen Standorten ging die soziale Entwurzelung jedoch weiter, etwa in den englischen Hafenstädten. Wallsend, die Heimatstadt des Musikers Sting, stimmte für den Brexit. Auch ehemalige Werft- und Stahlarbeiterstädte in den USA tendieren eher zu Donald Trump.

Was es nie gab, war eine vorausschauende staatliche Industriepolitik. Schon gar nicht in einem gesamteuropäischen Rahmen.

In Ihrem Buch überrascht, wie sehr der Staat nach der Wende im Osten doch immer wieder eingreift. Das deckt sich nicht ganz mit dem klassischen Bild der neoliberalen Nachwendejahre in Osteuropa. Müssen wir die Geschichte der Transformation umschreiben?

Ein Projekt dient immer dazu, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Wir sind tatsächlich davon ausgegangen, dass sich der Staat weit zurückzieht. Aber wir konnten feststellen, dass die Regierungen in Polen und Kroatien kräftig intervenierten. Zum Teil führte das wie in Gdynia sogar zu einer Rücknahme der Privatisierung, indem der Staat Aktien aufkaufte. Der Staat spielte eine stärkere Rolle als wir erwartet haben. Allerdings – und da greift das neoliberale Dogma doch – versuchte der Staat nie, unternehmerisch aktiv zu werden. Er war nur ein Nothelfer. Was es nie gab, war eine vorausschauende staatliche Industriepolitik. Schon gar nicht in einem gesamteuropäischen Rahmen.

Zusammenfassend: Was hat Sie am meisten bei Ihrer Arbeit für das Buch überrascht?

Die Entfremdung der Beschäftigten vom Betrieb, selbst in Unternehmensteilen, die erfolgreich den Übergang bewältigt haben. Der Einschnitt, den der EU-Beitritt für die beiden Werften mit sich brachte, das EU-Beihilferecht, war für beide Werften der Sargnagel. Und – wie gesagt – wie stark staatliche Institutionen beim Übergang in die Marktwirtschaft involviert waren. Vor allem aber auch, wie ziellos sie agierten.

Es hilft dem Klima wenig, wenn die Schiffe außerhalb der EU energieintensiv gefertigt werden

Das EU-Wettbewerbsrecht ist strikt und setzt enge Regeln für staatliche Regeln. Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar?

Strenge Vorgaben für Subventionen sind grundsätzlich richtig. Aber die EU schaut bei ihren Entscheidungen nur auf den europäischen Binnenmarkt und nicht auf neue Akteure wie China, die durch das Lohngefälle und aufgrund der Wanderarbeiter große Preisvorteile haben. Auf diesen globalen Wettbewerb kann die EU-Kommission kaum einwirken. Da braucht es eine aktive europäische Industriepolitik, die es mit Airbus im Flugzeugbau schon gibt.

Die EU will mit dem Green Deal bis 2050 klimaneutral werden. Von der sozial-ökologischen Transformation ist die Rede. Was lässt sich aus den Nachwendejahren für den nächsten Übergang lernen auch mit Blick auf soziale Kipppunkte?

Es ist eine große Herausforderung, die grüne Transformation so zu gestalten, dass sie sozialverträglich bleibt und damit auch mehrheitsfähig. Zudem muss der Übergang mit einer europäischen Industriepolitik flankiert werden. Es hilft dem Klima wenig, wenn die Schiffe außerhalb der EU energieintensiv gefertigt werden, etwa mit Stahl aus der Kohleverhüttung. Insofern stellt sich schon die Frage, welches Potenzial durch Innovationen im europäischen Schiffbau liegen, in Gdynia werden heute batteriebetriebene Hybrid-Fähren gebaut wie die „Elektra“. Europa hat mit Airbus gezeigt, dass es industriepolitisch erfolgreich sein kann. Für die industriellen Kerne einer klimaneutralen Wirtschaft muss die EU das noch beweisen.

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