Früher besser informiert.
Meine Abonnements
  • Sie sind nicht eingeloggt.

„Ich guckte Eminem vor einer DDR-Schrankwand im Mahagoni-Imitat”

Domenico Müllensiefen über seinen Weg vom Monteur zum Schriftsteller, ostdeutsche Identitäten und warum Intel zwanzig Jahre zu spät nach Leipzig kommt.
Schriftsteller Domenico Müllensiefen. (Foto: Kanon Verlag)
Schriftsteller Domenico Müllensiefen. (Foto: Kanon Verlag)

Domenico Müllensiefen, geboren 1987 in Magdeburg, hat mit „Aus unseren Feuern” einen fulminanten ersten Roman vorgelegt. Das Buch erzählt von drei Jugendlichen im Leipzig der Nuller-Jahre. Eine Verfilmung steht an, der Autor gibt demnächst an der University of Idaho Schreibseminare. Zum Interview findet er dennoch erst Zeit nach seinem Job als Bauleiter bei einem Telekommunikationsdienstleister. Kurz geht es hinaus nach Leipzig-Lindenau, hinter dem Kulturzentrum in der alten Spinnerei hat Müllensiefen gerade sein erstes eigenes Büro bezogen, nur zum Schreiben. An der Wand lehnen eine Tafel und eine Schreibtischplatte aus dem Baumarkt. Noch eben kurz die Maße für die Gardinen ausmessen, dann geht es in einem nahegelegenen Biergarten zum Gespräch über Arbeit als Wert, deutsch-deutsche Wohnzimmer und das Prägende der DDR – selbst für Nachwendekinder.

Herr Müllensiefen, was erfährt man als Installateur im Telekomsektor über das Leben?

Man lernt ganz viel über Menschen. Denn eigentlich taucht man als Monteur gar nicht auf. Die Leute nehmen einen nur in der Funktion des Handwerkers wahr. Und oft kommt man in Situationen rein, die völlig deplatziert sind.

Zum Beispiel?

Da hatten welche gerade Sex. Oder Menschen haben sich gestritten. Es gibt aber auch das Gegenbeispiel. Ich war mal bei einer Familie mit einem kleinen Kind, die ruhten alle drei völlig in sich. Da geht man raus und nimmt die Emotionen mit in den Tag.

Den Stressmoment mit freilaufenden Kampfhunden gibt’s aber auch?

Das kenn’ ich auch, zumindest ansatzweise. Ich kam in eine Wohnung mit einer großen deutschen Dogge. Ich liebe diese Tiere. Die sind zwar riesengroß, wollen aber nur kuscheln. Haben wir auch gemacht. Dann lege ich meine Jacke ab, fummel’ an der Internetdose rum und höre hinter mir plötzlich ein Lechzen. Das Tier hatte die Jacke total eingesaut, die stank total nach Hund.

Wie sehen deutsche Wohnzimmerlandschaften denn so aus?

Die Wohnungen sind recht ähnlich eingerichtet. Leipzig ist eine Stadt mit viel Zuzug, auch wegen der Universität. Hier dominieren Single-Haushalte mit viel Ikea-Kram. Dann gibt es die Haushalte mit Nostalgie, in denen sehr viel DDR-Möbel aus den 60er- und 70er-Jahren stehen, die ganz kunstvoll platziert sind. Und schließlich gibt es Wohnungen, in denen alles zusammengewürfelt rumsteht. Da passt wenig zusammen, außer das alles billig geschossen wird.

„Junge, du musst schreiben!”

Gibt es deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten?

Die meisten Wohnzimmer sind auf die Fernseher ausgerichtet. Das Gerät thront meist sehr groß mitten im Raum. Man guckt aus dem Wohnzimmer raus in eine andere Welt. Insgesamt gilt: Es gibt wenige Menschen, die so richtig viele Bücher haben.

Einer dieser Büchermenschen hat Ihnen den Weg in die Schriftstellerei geöffnet…

Das stimmt. Ich hatte einen Auftrag in einer Wohnung mit extrem vielen Büchern. Ich fragte nach und war bei Steffen Mohr gelandet, einem Leipziger Krimiautor. Nicht von allen geliebt, aber bekannt und inzwischen verstorben. Wir unterhielten uns und ich fragte, ob ich ihm mal was zuschicken könnte. Hab’ ich dann gemacht. Und Mohr hat geantwortet – per Brief mit einer gestochen scharfen, fast kalligrafischen Handschrift.

Was stand drin?

Junge, du musst schreiben!

Sie haben sich dann in Leipzig am Deutschen Literaturinstitut beworben und wurden im zweiten Anlauf genommen…

Die wollten im zweiten Auswahlverfahren wissen, ob ich auch bereit wäre, ein Sonnett zu schreiben. Ich hab’ dann recht schnell gesagt, dass ich zum zweiten Mal hier sitze. Dann wollten die wissen, was ich mache, wenn das mit dem Schreiben nicht klappt. Dann hab’ ich gesagt, dass ich weiter arbeiten gehe. Dann war das Gespräch beendet. Ich dachte: „Das war’s.” Ein paar Tage später kam aber die Zusage.

Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Ich habe immer nebenbei geschrieben. Auf Montage im Westen sind die anderen abends saufen gegangen und ich habe geschrieben. Haben aber alle akzeptiert, nie gab es dumme Sprüche.

„Wer Anfang der Nuller-Jahre von der Schule nach Hause kam, schaute Musikvideos von den Ärzten, Limp Bizkit, Eminem oder 50Cent. Und zugleich blickte er auf eine DDR-Schrankwand mit Mahagoni-Imitat.”

Wie stark hat die Arbeit als Monteur Sie geprägt?

Pro Auftrag bleiben zwanzig bis dreißig Minuten. Dieser stete Zeitstress schlägt irgendwann auf die eigene Persönlichkeit durch. Selbst, wenn ich daheim privat irgendetwas bastele, spüre ich einen enormen inneren Zeitdruck. Schnell, schnell fertig werden – das hat die Monteursarbeit mit mir gemacht. Das versuche ich mir auszutreiben, ist aber gar nicht so einfach.

Sie kamen kurz vor der Wende in Magdeburg zur Welt, sind auf dem Land in der Altmark großgeworden. Wie sehr ist für Ihre Generation die DDR noch präsent?

Irgendwie gab es zwei Welten. Wer Anfang der Nuller-Jahre von der Schule nach Hause kam, schaute Musikvideos von den Ärzten, Farin Urlaub, Limp Bizkit, Eminem oder 50Cent. Und zugleich blickte er auf eine DDR-Schrankwand mit Mahagoni-Imitat. Das passte einfach nicht zusammen.

Und Ihre Eltern?

Ich hatte das Gefühl, die wissen manchmal überhaupt nicht, wovon ich rede. Und umgekehrt.

Inwiefern?

Meine Eltern – also meine Mutter und mein Stiefvater, mein leiblicher Vater verschwand in den Westen – sind beide ostdeutsch sozialisiert. Beide waren nie glücklich mit der DDR. Aber beide waren auch nicht vorbereitet darauf, dass der Staat, in den sie geboren wurden, einfach verschwindet. Sie lebten auf einmal in einem Land, das Werte hat, die sie nie vermittelt bekommen haben und teilweise auch nicht verstanden. Meine Eltern sind keine Wendeverlierer, sie hatten immer Arbeit. Aber die saßen beim Abendbrot und haben sich über Dinge unterhalten, die einfach nicht meine Welt waren.

Zum Beispiel?

FDJ, 1. Mai-Aufzug und so. Alles Sachen, die es so nicht mehr gab. Ich habe nie ein Westpaket erhalten, aber ich kenne die Faszination darum. Ich hatte das Gefühl, dass meine Eltern immer noch in der DDR leben. Mit Werten von einem Land, das es überhaupt nicht mehr gibt. Mein Bruder ist knapp zehn Jahre jünger als ich. Ein Nachwende-Kind. Aber selbst der hat eine ganz hohe Affinität zu einem Land, in dem er nie gelebt hat, aus dem aber seine Eltern kommen.

Worin äußert sich das?

Es gibt vor allem auf dem Land einen Hype um alte Simson-Mopeds. Mobilität ist Freiheit – gerade auf dem Land. Die S50 und S51 aus DDR-Beständen sind ein bisschen flotter unterwegs als Mopeds im Westen. Es gibt eine Regelung, dass diese Dinger auch weiter im wiedervereinten Deutschland rollen dürfen. Deshalb sind die wahnsinnig begehrt und teuer. Es gibt richtige Dorfschmieden, die nichts anderes machen, als aus alten Simson neue Mopeds zusammenzuschrauben. Der eine ist auf Kolben spezialisiert, der andere auf alles, was unter dem Herzkasten steckt, also Elektrik. Hauptsache der Rahmen ist original.

Jenseits lahmer Mopeds – wie nehmen Sie eigentlich den Westen wahr?

Als Kind habe ich mich immer gewundert. Der Westen war auf eine eigene Art grau. Der Osten war auch grau, aber das verschwand, weil früher oder später alles renoviert wurde. Der Osten strahlt jetzt richtig bunt.

„Wir hatten hier keine Zukunft. Viele aus meinem Jahrgang sind im Westen gelandet, die wenigsten kamen zurück.”

In Ihrem Buch gibt es eine Passage, in der Eltern aus dem Osten mit einem Lehrer aus dem Westen über fehlende Gewissheiten reden, wenn sich von der Briefmarke bis zu Schulbüchern alles ändert. Wie haben Sie das erfahren?

Wir hatten keine Sicherheiten. Ich bin aufgewachsen in einem Haushalt, in dem man sich in erster Linie über Arbeit definiert. Man geht zur Arbeit und sorgt für sich selbst. In der Schule war das ähnlich. Wir wurden in der Realschule auf Arbeit getrimmt. Und als wir dann abgingen, stellten wir fest, dass es kaum Ausbildungsplätze gab. Dann kam Panik auf und die Frage: Was wird denn aus uns? Wir hatten hier keine Zukunft. Viele aus meinem Jahrgang sind im Westen gelandet, in Wolfsburg, Lüneburg oder Hamburg. Die wenigsten kamen zurück.

Sie Sind nach Magdeburg und habe eine Lehre bei der Telekom begonnen. Wie war das damals?

Das war vor allem große Freiheit. Zum ersten Mal weg von daheim und ein bisschen eigenes Geld verdienen. Dafür gab es schöne Dinge von McDonald’s über CDs bis zu hässlichen Klamotten und reichlich Alkohol.

Später sind Sie dann nach Leipzig gezogen. Was macht die Stadt so attraktiv?

Ich musste nach Magdeburg ziehen, weil es nach der Schule in der Altmark keine Arbeit gab. Und nach der Ausbildung 2006 ging ich nach Leipzig, weil es in Magdeburg keine Arbeit gab. Man fühlte sich, also ob einen das System einfach nicht braucht. Das war schon in der Schule so. Ich habe das Gefühl, dass ich in einem Schulsystem groß geworden bin, in dem schon eigenes Denken gelehrt wurde. Aber nicht so, dass man motiviert wurde, wirklich eigene Wege gehen. Abi auf der Abendschule zum Beispiel oder ein Jahr im Ausland? Diese Möglichkeiten kamen nicht vor. In meiner Klasse gab es niemanden, der mal ein Jahr nach Australien ging.

Lag das am System Schule oder einfallslosen Lehrern?

Das lag an unserer Herkunft, die Altmark war und ist arm. Und das lag an Lehrern aus dem Osten, die selbst kaum wagten zu träumen. Und Lehrer aus dem Westen wurden im Klassenverband zerlegt. Wir hatten einen Kunstlehrer, der war nach vier Tagen wieder weg.

Warum, nur weil der aus dem Westen kam?

Der hatte ein spannendes Projekt. Wir sollten uns einen Basar vorstellen, mit Teppichen, duftenden Gewürzen und so. Und dann sollten wir das zeichnen. Kam natürlich nur Murks bei rum. Einfach, weil niemand wusste, wie ein Basar riecht und schmeckt. Wir wurden praktisch erzogen. Wir wussten vielleicht, was Kubismus ist. Aber nicht, dass Kunst etwas mit Emotionen zu tun hat. Ganz ehrlich: Ich musste das später erst lernen.

„Die dritte und vierte Liga ist ein kleines Biotop des DDR-Fußballs.”

Lok Leipzig, Chemie Leipzig – eine große Rolle in Ihrem Buch spielen Fußball-Identitäten. Wie sind Sie zum Fußball gekommen?

Mein Onkel hat mich 2001 zum ersten Mal mit ins Stadion genommen. Aufstiegsspiel zwischen dem 1. FC Magdeburg und BFC Dynamo. 5:2 für Magdeburg. Völlig verdient. Mit allem, was man sich vorstellen kann. Schlägerei vor dem Stadion und Platzsturm nach dem Spiel. Ich war damals noch naiv. Im Fußball gab es für uns Jugendliche damals nur Dortmund oder Bayern. Ein paar Bekloppte waren auch für Schalke.

„Unsere Väter haben Maradona gesehen”, heißt ein schöner Satz in ihrem Buch über den Auftritt des Stars mit Neapel 1988 im Europapokal in Leipzig und die gerissene Geschichte zur Vergangenheit. Welche Rolle spielen Ost-Vereine wie Magdeburg, Carl-Zeiss Jena oder Energie Cottbus heute noch?

Eine große. Die Fußball-Identitäten konnte der Westen einem nicht wegnehmen.

Aber sportlich ging’s doch nach der Wende bergab…

Schon. Die Klubs tummeln sich zwar alle in den unteren Ligen, außer Union Berlin, die sind ein bisschen ausgebüxt. So wie Magdeburg mit dem Aufstieg in Liga 2. Aber alle anderen treffen sich in der dritten und vierten Liga wieder. Und das ist viel geiler, weil die ständig gegeneinander antreten und nicht gegen den Wuppertaler SV oder Stuttgarter Kickers. Das will hier niemand sehen. Die dritte und vierte Liga ist ein kleines Biotop des DDR-Fußballs.

Zieht es Sie selbst ins Stadion?

Ich gehe zu Chemie und RB Leipzig und habe von beiden Mannschaften Trikots zu Hause. Das mag jetzt überraschen. Ich kenne die Debatte um die Tradition, dem Kommerz und all das. Aber bei Lok brennt schnell mal der Baum. Auch bei Chemie kann es mitunter unruhig werden. Wer in Leipzig entspannt Fußball gucken will, geht zu RB. Ich bin da nicht immer, aber ab und an, wenn’s um Fußball geht, schau ich da vorbei. Und wenn es richtig toll, also so richtig toll, werden soll, dann gehe ich zu Chemie. Also nach diesem Interview vielleicht nicht mehr, aber das riskier ich jetzt mal.

Worin liegt für Sie der Reiz der Stadt?

Die Stadt ist eine Oase in einer oft kargen Wüste. Leipzig ist weltoffen, hat ein selbstbewusstes Bürgertum und eine starke antifaschistische und internationale Tradition. Leipzig war eine Erweckung, ich persönlich habe dort zum Glück nie einen Nazi-Vorfall erlebt. Viele sagen ja, Leipzig ist so wie Berlin vor zehn Jahren. Aber davon halte ich nichts. Die Stadt muss gar nicht so werden wie Berlin. Leipzig ist Leipzig. Das ist viel besser.

„Es gab hier nach der Wende genügend Ideen, aber es fehlten das Kapital und die entsprechenden Kontakte. Das ist vielen Ostdeutschen passiert, dass sie sich mit guten Konzepten nicht durchsetzen konnten.”

Ein Blick auf Ihre Geburtsstadt. Wie haben Sie reagiert, als der Chip-Hersteller Intel ankündigte, er investiert 17 Milliarden Euro in ein neues Werk in Magdeburg?

Das alles kommt zwanzig Jahre zu spät.

Wie meinen Sie das?

Intel wird es auf der Suche nach Fachkräften schwer haben. Magdeburg hat sich gesundgeschrumpft, so viele Arbeitslose gibt’s da nicht mehr. Also wird sich das Unternehmen über höhere Löhne auf dem Markt bedienen, um beim Mittelstand Fachkräfte absaugen. Kleine Firmen, die sich über dreißig Jahre ein bisschen was aufgebaut haben, werden es da schwer haben. Oder sie müssen sich Gedanken machen, wie sie ihre Leute endlich mal besser bezahlen. Den Standortvorteil billig hat der Osten jedenfalls künftig nicht mehr.

Tesla in Grünheide, Intel in Magdeburg. Geht im Osten jetzt die Sonne auf?

Die hätte längst aufgehen können – mit der Sonnenenergie. Bitterfeld war ein Zentrum der Solarindustrie, an der Uni in Halle gibt es sogar einen eigenen Lehrstuhl für Solartechnik. Aber dann hat Philipp Rösler die Subventionen gekürzt, was dazu führte, dass die komplette Industrie abschmierte. So kommen die Solarpaneele heute überwiegend aus China. Für Intel und vor allem Tesla ist der Osten vorrangig eine verlängerte Werkbank, die Forschung und Entwicklung laufen woanders. Wäre Intel vor zwanzig Jahren nach Magdeburg gekommen, wäre das eventuell auch was für mich gewesen.

Bleiben wir bei Perspektiven: Eine der Hauptpersonen Ihres Buchs sollte eigentlich eine Familienschlachterei übernehmen. Es kam dann anders…

Wir haben das ja alles hier vor Ort. Tönnies sitzt in Weißenfels und erhielt unendlich viel Wirtschaftsförderung. Das Ganze steht auch ein wenig symptomatisch für den Osten. Es gab hier nach der Wende genügend Ideen, aber es fehlten das Kapital und die entsprechenden Kontakte. Das ist vielen Ostdeutschen passiert, dass sie sich mit guten Konzepten nicht durchsetzen konnten.

Was ist wichtiger für Magdeburg, dass Intel ein neues Werk hochzieht oder dass der FCM in die zweite Liga aufgestiegen ist?

Der Aufstieg. Der FCM ist Identität. Europapokalsieger der Pokalsieger 1974. Das bleibt für immer. Das Herz der Menschen wärmt das mehr.

Auch spannend: Interview mit Schriftsteller Lukas Rietzschel: „Auch der Westen kann jetzt mal feiern”

Verwandte Beiträge