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Tagebuch eines Zwangsarbeiters: Verschleppt von den Nazis

Mit 19 wird Jan Bazuin von den Nazis verschleppt. Jetzt sind seine Erlebnisse als Tagebuch eines Zwangsarbeiters erschienen. Eine Annäherung.
Mehr als 20 Millionen Menschen müssen nach 1939 in Deutschland Zwangsarbeit leisten. (jco/AI)
Mehr als 20 Millionen Menschen müssen nach 1939 in Deutschland Zwangsarbeit leisten. (jco/AI)

Die erste Notiz klingt fast lapidar. „Heute kaum etwas Besonderes”, notiert der 19-Jährige Jan Bazuin in Rotterdam unter dem Datum 10. November 1944 als ersten Eintrag in sein Tagebuch. Die Niederlande sind von der deutschen Wehrmacht besetzt, ein erster Befreiungsversuch der Alliierten scheitert. Das Land steht vor einem Hungerwinter, rund zwanzigtausend Menschen werden in den kommenden Wochen an Erschöpfung und Unterernährung sterben. Bazuin kann Lebensmittelmarken auftreiben. „Es sind alte Marken, reine Glückssache, wenn wir etwas dafür kriegen”, schreibt er. Auch der Strom ist rationiert. „Es ist halb zehn. Flupp, sagt das Licht. Aus. Ab ins Bett.”

Das Leben wird sich für Bazuin rasch ändern. Im Januar 1945 wird er von den Nazis zur Zwangsarbeit nach Bayern verschleppt. Erst in ein Durchgangslager in Dachau, später in ein Zwangsarbeiterlager in Neuaubing bei München. „Ganz übler Tag”, schreibt Bazuin am 8. Januar, als er vom Abtransport erfährt. Mehr als 20 Millionen Menschen müssen nach 1939 in Deutschland Zwangsarbeit leisten. Als einer der wenigen Zwangsarbeiter hält Bazuin seine Erlebnisse in einem Tagebuch fest. Mehr als 20 Jahre nach seinem Tod ist es nun als Buch erschienen – bisher nur auf Deutsch. Eine Annäherung in drei Schritten.

Tagebuch eines Zwangsarbeiters: Wenn einem der Vater fremd wird

Es knackt und rauscht in der Leitung. Auch Zoom hat mitunter so seine Probleme. Aber die Aussage von Leon Bazuin, 63, längliches Gesicht, graues Haar, ist eindeutig: „Ich hatte nie damit gerechnet, dass die Aufzeichnungen als Buch erscheinen.”

Die Aufzeichnungen, von denen Leon Bazuin spricht, sind die Tagebücher seines Vaters Jan Bazuin. „Es ist kein spektakuläres Buch”, sagt Leon Bazuin, der Sohn. „Es ging um kleine Annehmlichkeiten wie Tabak im Lager, die harte Arbeit in Deutschland, seine Freundin in den Niederlanden.” Vor allem aber ums tägliche Überleben. „Es war wichtig, möglichst nah an der Küche zu sein”, sagt der Sohn. Mitunter schaffte es der Vater sogar, als Küchenhilfe zu arbeiten. „Als ich um 7 Uhr erschien, wurde mir gesagt, dass ich heute in die Fabrikküche versetzt worden sei”, hält Jan Bazuin fest. Wichtig, im Kampf gegen Hunger.

„Als wir wach werden, stehen zwei Soldaten mit Knarren über der Schulter vor der Tür. Niemand darf raus. Bei Polen und Italienern genauso. Was hat das zu bedeuten. Einfach abwarten. Halb neun. Es ist wieder vorbei…Was genau los war, weiß niemand”, notiert Jan Bazuin in seinem Tagebuch. Es ist ein Leben in Unsicherheit. Kurz vor Kriegsende gelingt ihm im April 1945 die Flucht. Die Tagebücher, drei Kladden, nimmt er mit nach Holland, macht nach dem Krieg ein bisschen Karriere in der Verwaltung. Nur über die erzwungene Zeit in Deutschland herrscht eine unheimliche Stille. „Mein Vater hat über die Zeit als Zwangsarbeiter nicht viel gesprochen – auch in der Familie”, sagt Leon Bazuin und ergänzt: „Ich habe den Eindruck, dass diese Erzählungen in den Niederlanden nicht viel Aufmerksamkeit erregen.”

Zwangsarbeiter bieten die falschen Heldengeschichten

Nach 1945 herrscht oft der stille Vorwurf, die Zwangsarbeiter hätten mit dem Feind zusammengearbeitet – in der Sowjetunion und in Westeuropa. Da sind Ost und West vereint. Die Zwangsarbeiter bieten die falschen Heldengeschichten. Auch deshalb mochte sie niemand hören. Und auch deshalb mochten sie die Zwangsarbeiter nicht erzählen. Selbst in der eigenen Familie. So ist es auch bei den Bazuins. Erst spät wird Jan Bazuin von der Geschichte eingeholt. Im Alter gibt es Komplikationen bei einer Operation. „Danach kamen die alten Erinnerungen wieder hoch. Das machte ihm sehr zu schaffen”, erinnert sich sein Sohn. Mitunter wird ihm der eigene Vater dann fremd.

Die letzten Jahre bis zu seinem Tod 2001 muss Jan Bazuin in einem Pflegeheim verbringen. Doch braucht es noch Jahre, bis sein Tagebuch an die Öffentlichkeit kommt. Erst nach dem Tod seiner Mutter 2009 entdeckt der Sohn das Tagebuch und erlaubt sich, in den drei Heften zu lesen. „Ich hab’ meinen Vater danach besser verstanden”, sagt Leon Bazuin heute.

Der Autor

Jan Bazuin ist 1925 in Rotterdam geboren, die Zerstörung der Stadt durch die Deutschen 1940 erlebt er als Jugendlicher. Im Januar 1945 wird er ins Zwangslager Neuaubing nahe München gebracht, im April 1945 gelingt Bazuin die Flucht. Er stirbt 2001 in den Niederlanden. Sein Sohn Leon Bazuin entdeckt die Notizen nach dem Tod seiner Mutter 2009 und transkribiert sie. Der Historiker Paul-Moritz Rabe entdeckt das Tagebuch 2017 im NS-Dokumentationszentrum Münche. Ergänzt um Illustrationen der Zeichnerin Barbara Yellin sind die Aufzeichnungen jetzt als Buch erschienen: Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters.

Gemeinsam mit seiner Frau Carolien hat er die eng beschriebenen, leicht vergilbten Seiten transkribiert. Über Lokalhistoriker fand das Buch den Weg nach München. „Es ist schon interessant, was die Forschung daraus ableitet”, sagt Leon Bazuin.

Er ist selbstständig in der Logistikbranche und lebt in Delft. In der Stadt zwischen Amsterdam und Rotterdam werden seit dem 16. Jahrhundert die Mitglieder der herrschaftlichen Familie der Oranier beigesetzt. Aber Leon Bazuin möchte eine andere Geschichte von unten erzählen. Er würde sich wünschen, dass das Buch bald auch in den Niederlanden erscheint. Verhandlungen laufen. Bazuin: „Wir müssen der Geschichte endlich einen Raum geben.”

Tagebuch eines Zwangsarbeiters: Das Besondere im Alltag des Schreckens

Der Geschichte einen Raum geben. Das ist auch die Aufgabe von Paul-Moritz Rabe. Der Historiker, Jahrgang 1984, leitet die wissenschaftliche Abteilung am NS-Dokumentationszentrum München sowie des neu entstandenen Erinnerungsorts am ehemaligen Zwangsarbeiterlager in Neuaubing. Jenem Lager, in dem Jan Bazuin zur Arbeit gezwungen wird. Rabe spricht nur kurz von „Jan”, wenn er über Bazuin redet. Der junge Mann aus Rotterdam ist ihm längst vertraut geworden. Rabe ist vor fünf Jahren im Hausarchiv des Dokumentationszentrums auf Bazuins Notizen gestoßen und hat daraus ein bemerkenswertes Buch gemacht. „Jan Bazuin: Tagebuch eines Zwangsarbeiters“. „Solche privaten Aufzeichnungen schaffen eine Verbindung zwischen kleinen persönlichen Erlebnissen und größeren politischen Weltlagen”, sagt Rabe.

Der Historiker nimmt sich viel Zeit, um über Jan Bazuin, das Buch und die NS-Zwangsarbeit zu sprechen. Mehr als zwanzig Millionen Frauen und Männer verschleppt das NS-Regime zur Zwangsarbeit nach Deutschland. Rabe belässt es nicht beim Ungefähren, sondern hat einen treffenden Vergleich parat: „Im gesamten Deutschen Reich existierten rund 30.000 Massenunterkünfte für Zwangsarbeiter, das entspricht etwa der heutigen Zahl an Supermärkten und Lebensmittelläden. Zwangsarbeit war also allgegenwärtig und sichtbar”, sagt der junge Historiker. Zwangsarbeit war überall.

Jan Bazuin macht seine eigenen Erfahrungen mit den Deutschen. Er schafft es mitunter ins Kino und sogar auf sonntägliche Tour ins Alpenvorland. „Ich hab’ mir in dem Bauerndorf mal angeschaut, wie man in Bayern Ostern feiert”, schreibt Bazuin. „Dazu muss man wissen: Jan war ein unkonventioneller, abenteuerlustiger und selbstbestimmter Typ”, erzählt Rabe, hält aber fest: „Das Gesamtsystem war eines der Diskriminierung, der strukturellen Ausbeutung und der Verfolgung.” Auch Bazuins muss das erfahren. Sein Bettnachbar nimmt sich das Leben.

„Essen, arbeiten, essen, arbeiten”

„Wieder dasselbe System. Früh anfangen, essen, arbeiten, essen, arbeiten. Essen, spät fertig, ungefähr 15 Minuten bis zur Baracke laufen, waschen, zu Bett” – Bazuin hält den Alltag des Schreckens fest. In seinen Aufzeichnungen finden sich auch erstaunliche Besonderheiten. Das NS-Regime unterscheidet streng zwischen Zwangsarbeitern aus West- und Osteuropa. Bazuin aber hält gegenseitige Besuche in den Unterkünften fest, zeitweise ist er gemeinsam mit Zwangsarbeitern aus Osteuropa in einer Baracke untergebracht. „Dem Holländer – ein kleiner Soldat Polens”, notiert ein polnischer Zwangsarbeiter in Bazuins Tagebuch.

„Der Austausch unter den Zwangsarbeitern aus unterschiedlichen Ländern war scheinbar größer als angenommen”, erklärt Rabe. Sein Fazit über das Besondere in den Alltagsnotizen in Bazuins Tagebuch: „Jan beschreibt seine Gefühlslagen, kleine Streitereien in der Familie, sein Verliebtsein, aber auch den großen Hunger. Das eröffnet uns eine private Welt neben den aus den Lehrbüchern bekannten Strukturen der Unterdrückung in den Zwangsarbeiterlagern, wie wir sie schon kennen.”

Tagebuch eines Zwangsarbeiters: Leerstellen mit Bildern füllen

Barbara Yelin fügt den eindrucksvollen Schilderungen noch eine Besonderheit hinzu: Illustrationen. Die Münchner Zeichnerin hat Kunst-Comics zu Vincent van Gogh und Allbrecht Dürer gemacht, sie hat mit „Gift” einen historischen Krimi der Biedermeier-Zeit illustriert und ist vielfach ausgezeichnet worden. „In Zeichnungen von Barbara Yelin kann man abtauchen wie in immer andere Gewässer”, lobt Regisseurin Doris Dörrie. Die so Gelobte sagt nur bescheiden: „Bilder sind meine Sprache.”

Barbara Yelin hat für Bazuins Tagebuch eine eigene Sprache gefunden. Denn die spät veröffentlichten Aufzeichnungen hätten vermutlich nur die historische Fachwelt ins Staunen versetzt, hätten die Macher nicht eine geniale Idee gehabt: Das Buch mit Zeichnungen zu versehen. Und zwar von Barbara Yelin.

Die Zwangsarbeiter

Weit mehr als 20 Millionen Menschen in Europa werden vom NS-Regime zur Zwangsarbeit herangezogen, 12 Millionen in den besetzten Gebieten, 13,5 Millionen müssen Zwangsarbeit in Deutschland leisten, darunter rund 1,7 Millionen KZ-Häftlinge. Erst 1998 einigte sich der Bundestag auf Zahlungen für erlittenes Unrecht, um Sammelklagen zu entgehen, beteiligte sich daran auch die deutsche Wirtschaft.

„Bazuin schreibt nicht für uns, sondern erstmal für sich. Das lässt Leerstellen, und diese Leerstellen versuche ich zu füllen”, sagt Yelin und ergänzt: „Ein Tagebuch ist etwas, was allein durch seine Struktur Lücken lässt. Mit diesen Leerstellen kann ich als Zeichnerin gut arbeiten.” So ist aus Jan Bazuins Schilderungen ein eindrucksvolles Buch geworden, das nicht allein durch die Aufzeichnungen berührt, sondern auch durch die Illustrationen.

Barbara Yelin, 45, sitzt in ihrem ebenerdigen Atelier in München-Untergiesing. Draußen vor den tiefen Fenstern fahren die Fahrräder und ein großes Müllauto vorbei, drinnen erzählt Yelin über ihre Arbeit. Wie sie erst das Tagebuch gelesen, sich dann an historische Quellen gemacht und schließlich gemeinsam mit Rabe und dessen Historikerkollegen Details ausgekundschaftet hat, von den Lichtverhältnissen in den Zwangsarbeiterlagern bis hin zu den Zerstörungen durch die deutschen Luftangriffe in Bazuins Rotterdamer Heimatstraße.

Von „Entschichten” spricht Yelin mit Blick auf die wenigen historischen Fotos aus den Zwangsarbeiterlagern. „Die Bilder sind meist aus Tätersicht aufgenommen. Das heißt, man muss die Fakten aus der historischen Forschung anhand der Aktenlage zusammenbringen mit den historischen Aufnahmen. All dies nimmt man zusammen und erarbeitet eine mögliche Skizze.”

Yelin hat bisher viel mit Bleistift gearbeitet. Und damit in Schwarz-Weiß. „Aber Schwarz-Weiß-Zeichnungen tragen allein durch die Technik eine große Düsterheit in sich. Wenn das Thema wie bei Jans Tagebuch auch ein Schweres ist, lässt das Arbeiten mit schwerem Bleistift zu wenig unterschiedliche Atmosphären zu”, sagt die Illustratorin. Deshalb hat sie sich für kolorierte Zeichnungen entschieden. „Aber ich arbeite schon sehr stark mit reduzierter Farbe. Der Ton auf vielen Bildern lässt sich ja fast als matschig beschreiben.”

Zeitzeugen gesucht

Die Geschichte der Zwangsarbeit wird erforscht. So sucht der Bezirksverband Pfalz nach Zeitzeugen zur Zwangsarbeit in der Pfalz. Fotodokumente, Unterlagen oder Zeitzeugenerinnerungen (gern auch als Audio- oder Video-Interview) an: forschung-zwangsarbeit@bv-pfalz.de

Dazu muss man wissen, dass in der Geschichtswissenschaft gerade eine kleine Debatte über die Kolorierung von Schwarz-Weiß-Aufnahmen wogt. Der Berliner Kunsthistoriker Peter Geimer hat mit „Die Farben der Vergangenheit” dazu gerade eine kritische Bilanz vorgelegt. Yelin sieht das Ganze gelassen: „Sobald man Schwarz-Weiß sieht, erfolgt eine Distanzierung. Das ist Vergangenheit. Mir ist es wichtig, dass diese Erfahrungen durch Bilder in Farbe ihre gewohnte Distanz verlieren.”

So wird Bazuins ferner Alltag plötzlich in diesem Buch wirklich nahbar.

Epilog

Was nehmen die Macher also mit aus einem einmaligen Projekt? „Ich habe viel über die Strukturen der Zwangsarbeit gelernt”, sagt Barbara Yelin. Am meisten berührt sie ein besonderes Lob: „,Darin erkenne ich meinen Vater wieder!’, sagte Bazuins Sohn Leon beim Blick auf Yelins Zeichnung auf dem Buchcover”, erzählt die Illustratorin von der Buchpremiere zuletzt in Bayern und ergänzt: „Das hat mich sehr gefreut, dass wir uns da getroffen haben. Der Sohn mit seinen Erinnerungen und ich mit meinem Bild.”

Und Paul-Moritz Rabe? Der Historiker schaut nicht nur zurück, sondern auch auf Russlands Krieg in der Ukraine und eine Welt konkurrierender Wahrheiten. Auch Bazuin muss im Lager von Gerüchten und Geschichten über die Welt da draußen leben. „Was weiß wer zu welchem Zeitpunkt über den Kriegsverlauf unter den Bedingungen einer eingeschränkter Informationslage- und angesichts der Instrumentalisierung von Medien? – Das ist auch für heutige Kriegsgesellschaften eine zentrale Frage”, sagt Rabe.

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