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Faktencheck: “Deutschland wird nicht zunehmend ungleicher”

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Der deutsche Arbeitsmarkt läuft, und Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) will sich „die Rekordbeschäftigung nicht schlechtreden lassen”. Zudem wird aus seiner Sicht das Problem der Ungleichheit übertrieben dargestellt. “Deutschland wird nicht zunehmend ungleicher”, sagt der Politiker. Was ist dran? Der Journalistico-Faktencheck.

Was sagt Schäuble genau?
Der Minister verweist darauf, dass die sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisse in den letzten Jahren am dynamischsten gewachsen und die atypischen Beschäftigungsverhältnisse zurückgegangen seien. Die Einkommens- und Vermögensverteilung sei seit zehn Jahren weitgehend stabil. “Die Ungleichheit bei den Einkommen war bis 2005 deutlich angestiegen”, so Schäuble. Danach – also seit der Kanzlerschaft von Angela Merkel – sei die Ungleichheit der Stundenlöhne gesunken. Auch bei den Vermögen sei über die vergangenen zehn Jahre keine Tendenz zu einer verstärkten Vermögenskonzentration am oberen Rand erkennbar. “Deutschland hat eine eher geringe Ungleichheit der verfügbaren Einkommen – deutlich unter dem OECD-Durchschnitt und den niedrigsten Wert unter den G20-Ländern”, so Schäuble. “Diese Umverteilung allerdings kostet.“

Steigt die Einkommensungleichheit nicht?
Tatsächlich ist die mit dem Gini-Koeffizient  einem international anerkannten Maß  berechnete Ungleichheit der Stundenlöhne von Vollzeitbeschäftigten laut Studien zurückgegangen (die nach Leistungsgruppen berechnete Schere ging allerdings auf). Auch insgesamt lag die Ungleichheit bei den Einkommen (gemessen am Gini-Koeffizient der äquivalenzgewichteten Nettohaushaltseinkommen) zuletzt ungefähr auf dem Stand von 2005. Soweit stimmt die Aussage von Schäuble. Doch es gibt einige Punkte zu beachten:

Nachdem die Einkommensungleichheit in den 60er und 70er Jahre geschrumpft war, ging es ab den 80er Jahren bergauf, besonders deutlich ab Mitte der 90er  Jahre. 2005 erreichte die Ungleichheit einen Nachkriegsrekord – und auf dem liegt sie noch immer, trotz jahrelangem Job-Boom. Der Aufschwung der vergangenen Jahre erreicht die unteren 40 Prozent der Bevölkerung kaum oder nicht.

Der zwischenzeitliche Rückgang der Einkommensungleichheit ab 2007 resultierte laut Studien vor allem aus der globalen Finanzkrise, die die Unternehmens- und Vermögenseinkommen reduzierte. Denn für die Topverdiener sind Kapitaleinkommen, Geschäftseinkommen sowie Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit von zunehmender Bedeutung.

Dass die Ungleichheit nicht höher liegt und nach der Krise weiter gestiegen ist, könnte auch an einer statistischen Unschärfe liegen: Die Einkommen und Vermögen von Millionären und Milliardären sind in Deutschland schlecht erforscht und werden deshalb möglicherweise unterschätzt. „Angesichts fallender Lohn- und entsprechend steigender Gewinnquoten ist eine weitere Zunahme der Ungleichheit in Deutschland mehr als wahrscheinlich“, so die gewerkschaftsnahe Böckler-Stiftung.

Ist Deutschland ein eher gleiches Land?
Schäuble hat recht, innerhalb der Gruppe der G20-Staaten ist die Verteilung in Deutschland relativ gleich. Doch umfasst die G20 auch Länder mit krasser Ungleichheit wie Brasilien, Russland, Mexiko, Südafrika oder die USA. Deutschland liegt auch unter dem Durchschnitt der OECD-Staaten – wobei in dieser Gruppe die Einkommensungleichheit „auf historisch hohem Niveau stagniert“. Innerhalb Europas belegt Deutschland laut Untersuchungen dagegen nur einen Mittelplatz – trotz massiver Umverteilung. Dies liegt daran, dass die Markteinkommen – also die Einkommen vor staatlicher Umverteilung – sehr ungleich verteilt sind. Deutschland liegt hier gleichauf mit den USA.

Steigt die Vermögensungleichheit nicht?
Tatsächlich wächst die Ungleichheit bei den Vermögen in letzter Zeit laut Analysen nicht mehr. Allerdings ist diese Ungleichheit in Deutschland enorm groß. Innerhalb Europas kommt nur Litauen auf einen höheren Wert. Den unteren 70 Prozent der deutschen Haushalte gehören nur etwa zehn Prozent des Gesamtvermögens. Die reichsten zehn Prozent dagegen verfügen über etwa 60 Prozent (OECD-Durchschnitt: 50 Prozent). Und dieser Anteil ist wahrscheinlich unterschätzt, laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung könnte er auch über 70 Prozent liegen.

Geht die atypische Beschäftigung zurück?
Schäuble merkt korrekt an, dass die atypische Beschäftigung in Deutschland seit 2010 gesunken ist. In diesem Jahr hatte sie laut Statistischem Bundesamt aber auch mit 7,95 Millionen Personen einen Höchststand erreicht. Bis 2015 sank sie auf 7,53 Millionen, ist im Folgejahr aber wieder auf 7,66 Millionen gestiegen. Ihr Anteil an den so genannten Kernerwerbstätigen liegt seit Jahren konstant bei etwa 21 Prozent. Anzumerken ist, dass die zuletzt 3,6 Millionen Teilzeitbeschäftigten mit mehr als 20 Wochenstunden Arbeit nicht zu den atypischen Jobs zählen.

Bei der Volkszählung im Jahr 2022 werden sich genauere Kennzahlen ergeben, wie Deutschland demografisch aufgebaut ist.

Kommentar
  1. Der Gini der Stundenlöhne sagt meiner Ansicht nach nichts aus, wenn nicht berücksichtigt wird, wieviel gearbeitet wird. Die Zahl der Arbeitenden ist zwar um 15% seit der 90-er gestiegen, die geleisteten Arbeitsstunden aber nur um 2%, die Zahl der registrierten Beschäftigten alleine ist völlig sinnfrei; wenn alle Arbeitsfähigen 1Stunde am Tag arbeiten, haben wir Vollbeschäftigung, aber erwirtschaften nur einen Bruchteil.

    Nun wäre das alles nicht so schlimm, wenn die Leute freiwillig weniger arbeiten würden, aber dagegen spricht, dass sich die Zahl der Leute mit Job, die ein Armutsrisiko haben, von 5% in 2004 fast verdoppelt hat. Ausserdem ist die Zahl derer, die Niedriglohn beziehen (unter zwei Drittel des Median-Einkommens) von 15% auf 20% gestiegen.

    Darüberhinaus sind die Steuern für Niedrigverdiener (denn nur Nettolöhne interessieren) seit 2000 unter den höchsten in der Welt und daran hat sich nichts geändert ….
    Siehe auch: http://www.cer.eu/publications/archive/policy-brief/2017/hartz-myth-closer-look-germanys-labour-market-reforms

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