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Niederlande: Verdruss und Zersplitterung

Bei den niederländischen Kommunalwahlen herrschte eine historisch niedrige Wahlbeteiligung. Diese 7 Take-Aways kann man aus der Wahl mitnehmen.
Die Wahlbeteiligung bei den niederländischen Kommunalwahlen erreicht ein historisches Tief. (Foto: Miltiadis Fragkidis)
Die Wahlbeteiligung bei den niederländischen Kommunalwahlen erreicht ein historisches Tief. (Foto: Miltiadis Fragkidis)

Demoskopen sehen es so: Abstimmungen zweiter Ordnung nennen sie Voten wie Kommunalwahlen, bei denen es weniger um die großen Linien der Politik als vielmehr um lokale Themen geht. Drei Tage lang bestimmten die Niederlande kürzlich ihre Gemeindeparlamente. Die niederländischen Kommunalwahlen fanden im Schatten des russischen Krieges in der Ukraine statt. Den Wahlkampf aussetzen mochte aber niemand. „Russlands Krieg ist auch ein Angriff auf die Demokratie. Darum müssen wir die Demokratie feiern”, mahnte Grünen-Chef Jesse Klaver.

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Dennoch handelte die Regierung von Premier Mark Rutte mit Blick auf steigende Benzinpreise. Entlastungen von 2,8 Milliarden Euro beschloss das Kabinett kurz vor der Wahl, im Zentrum eine niedrigere Mehrwertsteuer auf Sprit. Gegenüber weiteren Sanktionen gegen Russland zeigte sich die niederländische Regierung offen. So stand die Wahl zwar im Schatten des Krieges, für Rutte und sein seit Jahresbeginn amtierendes Kabinett war es aber auch ein erster Test. Diese sieben Take-Aways können aus aus der Wahl mitgenommen werden:

Die Regierungsparteien haben verloren, aber nicht so stark wie erwartet.

Die Rechtsliberale Partei VVD von Premier Rutte wird landesweite stärkste Kraft – mit knapp 12 Prozent. Die Christdemokraten landen mit gut 11, Prozent auf Platz 2 vor der linksliberalen Partei D66 von Finanzministerin Sigrid Kaag. Nur die wertkonservative Christenunion verlor spürbar. Von „externen Effekten” sprach Premier Rutte mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und ging noch am Wahlabend über zum Regierungsgeschäft. Telefonieren mit Staats- und Regierungschefs weltweit. Das Signal war klar: Hier geht es nur um eine Kommunalwahl. Der Premier aber muss die Welt retten.

Hohe Zahl an Nichtwählern bei den niederländischen Kommunalwahlen.

1970 wurde die Wahlpflicht in den Niederlanden abgeschafft, bis 2018 sank der Anteil der Nichtwähler auf rund 55 Prozent. Nun fiel die Quote auf 50,3 Prozent – ein historischer Tiefpunkt. „Wir müssen das gut analysieren”, sagte ein leicht abgekämpfter Premier Rutte zu vorgerückter Stunde, das Oberhemd schon ausnahmsweise um die beiden oberen Knöpfe gelockert. Vor allem in Großstädten blieben die Wähler daheim. In Amsterdam fiel die Beteiligung auf 46 Prozent (minus 6 Punkte), in Den Haag auf 43 Prozent, in Rotterdam auf unter 39 Prozent. Auch rechte radikale Parteien verloren. Auf die Stimme für Rechtsaußen folgt weitere Enttäuschung und das Fernbleiben. Das Vertrauen in die Politik schwindet.

Strahlende Sieger sind bei Kommunalwahlen immer schwer auszumachen.

In diesem Fall ist es einfach: Marjolein Moorman, 47, Kommunikationswissenschaftlerin und Sozialbürgermeisterin in Amsterdam führte die Sozialdemokraten in Hollands größter Stadt zu einem überraschenden Comeback. Stärkste Kraft – mit 17 Prozent, gleichauf mit den Grünen. „Was für ein fantastisches Ergebnis”, sagte Moorman und fügte hinzu: „Die Menschen in Amsterdam haben abgestimmt. Sie wollen nicht allein eine Stadt, in der sie gut leben können, sondern in der auch andere gut leben können.” Die horrenden Mietpreise waren das drängendste Thema im Wahlkampf, ebenso wie die Auswirkungen des Kriegs in der Ukraine mit steigenden Sprit- und Heizkosten. Sozialpolitik ist zurück auf der Agenda. „Amsterdam wird rot”, freute sich Moorman, weitere Karriere auf Landesebene nicht ausgeschlossen.

Keine Hoffnung, nirgends?

Die Grünen wurden in Eindhoven stärkste Kraft. Von einem „nachhaltigen Aufbruch” sprach Parteichef Jesse Klaver. Auch D66-Frontfrau Sigrid Kaag sprach von einem Signal für eine „nachhaltige und soziale Politik”, so sah es auch Marjolein Moorman, sozialdemokratische Siegerin in Amsterdam. Wer mochte, konnte ein Signal für den Wandel erkennen: Links von Premier Rutte zeichnen sich Linien für ein neues Bündnis ab.

Lokale Bündnisse triumphierten bei den niederländischen Kommunalwahlen.

Im niederländischen Parlament sitzen 19 politische Gruppierungen. Der Trend zur Zersplitterung setzt sich ganz unten fort. Die Kleinparteien etablieren sich auch in den Kommunen. Darunter konstruktive Kräfte wie die proeuropäische Jugendbewegung Volt, die vor allem den erstarrten Grünen zu schaffen macht. Aber auch Migrantenparteien wie Denk und Bij1, der ehemaligen Fernsehmoderatorin Sylvana Simons. Vor allem lokale Bündnisse, am ehesten vergleichbar mit den Freien Wählern, legen zu. Das rechtskonservative Hart van Den Haag wurde am Sitz der Regierung stärkste Kraft im Stadtrat. Das Land fragmentiert sich – auch auf kommunaler Ebene.

Rechtsaußen verliert Stimmen durch die Zersplitterung.

Geert Wilders meldete sich über Twitter zu Wort. „In alle Stadträte eingezogen”, erklärte der Rechtsaußen. Das ist auch einfach: Seine Partei PVV, die formal nur ihn als Mitglied kennt, trat nur in 31 Gemeinden an. In Rotterdam, der Heimatstadt von Pim Fortuyn, des Urvaters aller rechten Populisten, wurden seine selbsternannten Erben „Leefbar Rotterdam” – Lebenswertes Rotterdam – stärkste Kraft. In Amsterdam verliert das rechtsextreme Forum für Demokratie des Rechtsintellektuellen Thierry Baudet deutlich – an eine rechte Abspaltung. Der Trend zur Zersplitterung erfasst auch Rechtsaußen.

Diederik Boomsma ist nach den niederländischen Kommunalwahlen der einzige Christdemokrat in Amsterdams Stadtrat.

Dabei wird es auch bleiben. Wie in Deutschland haben die Christdemokraten mit Zustimmung im urbanen Milieu zu kämpfen. Kleiner Trostpreis für die Christdemokraten: Boomsma wurde jetzt von einer unabhängigen Jury zum besten Ratsmitglied 2022 in den Niederlanden gewählt. Weiterer Aufstieg auf Landesebene gut möglich.

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