Energiepolitik ist nicht nur etwas, worüber in diesen Zeiten engagiert diskutiert wird. Energiepolitik wirkt auch konkret. Das weiß man in Lubmin. In dem hübschen Badeort in Vorpommern haben sich am zurückliegenden Wochenende dreitausend Menschen eingefunden, um die Öffnung von Nordstream 2 zu fordern. Die Pipeline des „privatwirtschaftlichen” Projekts, wie Olaf Scholz es noch während des Bundestagswahlkampfs bezeichnet hat, mündet hier nach Deutschland. Zwei Tage vor Wladimir Putins Überfall auf die Ukraine jedoch hatte Scholz, mittlerweile Kanzler, Nordstream 2 gestoppt. Deutschland setzt nun auf die Erneuerbaren.
Dass angesichts steigender Energiepreise die Menschen in Lubmin die Öffnung fordern, kann man als realitätsfern kritisieren. Aber so einfach ist es eben nicht. Gerade jetzt, da der 32. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung ansteht, lohnt sich ein genauerer Blick – in die Geschichte der DDR, aber auch in die Zeit nach dem Mauerfall.
Die Wiedervereinigung bringt nicht den großen Wandel
In Lubmin gehen mit dem Aus für Nord Stream 2 die Jobs vor Ort verloren. Mal wieder. Zum Ende der DDR arbeiteten im dortigen Kernkraftwerk 10.000 Menschen. Nach der Schließung verließen sie sich auf die Politik. Lubmin sollte Energiestandort bleiben, jetzt mit russischem Gas. Aber drei Jahrzehnte später ist auch dieser Plan gescheitert. Putins Angriffskrieg hat gezeigt, dass er kein geopolitischer Partner ist. Die Ampel setzt nun auf Flüssiggas.
Die wirtschaftlichen Folgen für den gescheiterten „Wandel durch Handel” tragen die Vorpommerer. In ihren Wutreden und den Forderungen nach Öffnung der Pipeline ist sowohl die Abständigkeit als auch die Unterwürfigkeit gegenüber „denen da oben” zu hören. Die Botschaft: Regelt das, sonst wählen wir euch ab. Dass andere lenken – so haben sie es nicht nur in der zentralistischen DDR gelernt. Auch nach dem Mauerfall blieb in den ostdeutschen Provinzen kaum Raum zur persönlichen Entfaltung. Die Marktwirtschaft westdeutscher Prägung machte aus den Ossis Konsumenten, der Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft aus ihnen Kostgänger des Sozialsystems. Man passte sich an, so schnell es ging. Die parlamentarische Demokratie war eher Nebensache. Für viele ist sie das geblieben.
Wütender Osten, gleichgültiger Westen?
Zum anderen ist da die ganz andere Erfahrung der Ostdeutschen mit der Sowjetunion. Natürlich gab es die staatlich verordnete „Freundschaft” mit dem „Großen Bruder”. Als die GUS-Streitkräfte Mitte der Neunzigerjahre Deutschland verließen, wurde ihnen keine Träne nachgeweint. Der kühle Abschied konnte jedoch nicht vier Jahrzehnte Alltagsbeziehungen ungeschehen machen. Die Sprache und die Kultur der Sowjetunion waren allgegenwärtig, es gab Reisen und Freundschaften, auch Ehen. Bis heute haben viele Ostdeutsche das Gefühl, ein tieferes Verständnis für postsowjetische Realitäten zu haben. Gerade in den Neunzigerjahren, als mit Michail Gorbatschow überraschend ein Reformer die Macht in Moskau übernahm, wandelte sich das Bild. Statt Politbüro-Greisen sprach da ein Realpolitiker aus, was Not tat: Glasnost und Perestroika. Ohne ihn hätte es die deutsche Wiedervereinigung nie gegeben.
Die historisch einzigartige Erfahrung des selbst herbeigeführten Umbruchs stellt bis heute das Mittel der Teilhabe vieler älterer Ostdeutscher dar. Erst wenn sie laut werden, unangenehm, wird ihnen zugehört. Der Wunsch nach Krawall und das Leugnen von Fakten wiederum sind genau die Oberfläche, auf der sich rechte und rechtsextreme Parteien und Bündnisse Einfluss verschaffen. Eine aktuelle Insa-Umfrage zeigt, wie tief gespalten Deutschland ist. Wäre an diesem Sonntag Bundestagswahl, würden 27 Prozent der Ostdeutschen der rechtsextremen AfD ihre Stimme geben. Im Westen sind es zwölf Prozent. Damit liegen die Populisten gleichauf mit der CDU, der Partei von Helmut Kohl und der deutschen Einheit. Von Westen aus gesehen mag der Osten weniger wichtig erscheinen. Aber klar ist: 32 Jahre nach der Wiedervereinigung ist er zur operativen Basis der politischen Rechten geworden.
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