Ihre Stimme hat Gewicht: Die Arbeitgeberverbände (BDA) warnen im Wahlkampf vor steigenden Abgaben für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung (GKV, SPV). Das würde die Lohnkosten der Unternehmen erhöhen und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft schwächen, behauptet BDA-Präsident Ingo Kramer und stützt sich dabei auch auf ein von seinem Verband in Auftrag gegebenes Gutachten der Prognos AG. Allein die Abschaffung des Zusatzbeitrages in der GKV würde demnach bis zu 140.000 Jobs kosten. Hielte man hingegen die Sozialabgaben durch Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt zum Gesundheitsfonds konstant, ergäben sich bis zu 415.000 neue Arbeitsplätze. Welche Substanz haben diese Behauptungen?
Müssen wir mit steigenden Gesundheitsausgaben rechnen?
Ja, aber das ist an sich ist kein wirkliches ökonomisches Problem. Gesundheitliche und soziale Dienste haben im Vergleich zu den industriell hergestellten Gütern eine geringere Rationalisierbarkeit. Das hat Struktureffekte bei den Preisen und auf dem Arbeitsmarkt zur Folge. Heute geben wir für Fernseher, Waschmaschinen oder andere industriell hergestellte Waren einen deutlich geringeren Anteil unseres Einkommens aus als vor 30 oder 40 Jahren. Dafür zahlen wir relativ mehr für Dienstleistungen. So, wie die Industrie früher die in der Landwirtschaft nicht mehr benötigten Arbeitskräfte auffing, ersetzen heute personalintensive Branchen wie das Gesundheitswesen die Jobs, die durch die wachsende Produktivität in der Industrie wegfallen.
Führt die demografische Entwicklung zu steigenden Ausgaben der Kranken- und Pflegeversicherung?
Ja. Die Krankheitskosten steigen mit dem Alter, wie Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen (siehe Tabelle). Die steigende Lebenserwartung führt aber nicht zu linear mit dem Lebensalter steigenden Kosten der GKV, sondern zu einem vor allem im hohen Alter wachsenden Pflegebedarf, der großenteils von der Pflegeversicherung finanziert wird. Von der scheinbar statistisch belegten Altersabhängigkeit der Krankheitskosten auf eine unabwendbare „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen infolge der demografischen Entwicklung zu schließen, würde die komplexen Zusammenhänge von Alter und Krankheitskosten deutlich verkennen.
Eine Bestandsaufnahme des Robert-Koch-Instituts zu den Erkenntnissen über den Zusammenhang von Alter und Krankheitskosten zeigt, dass es keinen linearen Zusammenhang von Alter und Höhe der Behandlungskosten gibt. So beschreibt zum Beispiel die „Sterbekostenthese“ eine altersunabhängige Kostenkonzentration im Jahr vor dem Eintritt des Todes. Außerdem steigt die Zahl der „gesunden Alten“. Die „Kompressionsthese“ in der Gerontologie besagt, dass immer mehr Menschen ein hohes Alter in einem relativ gesunden Zustand erreichen. Sie haben erst in den beiden letzten Lebensjahren einen wachsenden Betreuungsbedarf, der vor allem von der Pflegeversicherung getragen werden muss.
Krankheitskosten nach Alter in Deutschland, 2008 |
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Altersgruppe | in Milliarden Euro | Anteil von Hundert | pro Kopf in Euro |
unter 15 | 15,221 | 6,0 | 1360 |
15 – unter 30 | 18,967 | 7,5 | 1320 |
30 – unter 45 | 30,082 | 11,8 | 1700 |
45 – unter 65 | 66,921 | 26,3 | 3010 |
65 – unter 85 | 96,837 | 38,1 | 6520 |
85 und älter | 26,252 | 10,3 | 14,840 |
Total | 254,280 | 100 | 3100 |
Führt der medizinisch-technische Fortschritt zu überproportional wachsenden Ausgaben der GKV?
Nein. Zwar gibt es etwa in der Onkologie und der Neurologie neue wirksame Therapien mit hohen Fallkosten. Aber ihnen stehen Rationalisierungseffekte der modernen Medizin gegenüber. Zahlreiche Eingriffe, die früher mit einem längeren Krankenhausaufenthalt verbunden waren, werden heute kostengünstiger ambulant und teilstationär durchgeführt. Die durchschnittliche Verweildauer in den Krankenhäusern hat sich in den vergangenen 25 Jahren halbiert (1991: 14,0 Tage / 2016: 7,3 Tage). Die Ausgaben der GKV haben seit über 20 Jahren trotz erheblicher medizinischer Fortschritte einen konstanten Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP)
Gesundheitsausgaben in Deutschland, 1970-2015 |
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Jahr | Anteil am BIP in % | GKV-Ausgaben in % des BIP | Durchschnittlicher GKV-Beitragssatz |
1975 | 8,4 | 5,7 | 10,04 |
1985 | 8,8 | 6,0 | 11,73 |
1995 | 9,4 | 6,6 | 12,2 |
2005 | 10,8 | 6,4 | 14,19 |
2015 | 11,3 | 6,9 | 15,70 |
Die Prognos-Studie bezieht sich auf gesundheitsökonomische Studien, die eine wegen des medizinischen Fortschritts um ein Prozent über dem Wirtschaftswachstum liegende Steigerung der Gesundheitsausgaben postulieren. Sie beruhen auf Hochrechnungen von GKV-Ausgaben aus den 1980er und 1990er Jahren, ohne die Mengenausweitungen medizinisch zu bewerten. Nicht der medizinische Fortschritt an sich ist ein Kostenproblem, sondern dessen unwirtschaftliche Umsetzung mit medizinisch nicht zu begründenden Fallzahlen. So werden etwa Koronarinterventionen (Stent, Bypass) nach Erhebungen der Industrieländerorganisation OECD in Deutschland pro 100.000 Einwohner fast doppelt so oft durchgeführt wie in Frankreich oder Schweden (453 gegenüber 255 bzw. 235), bei in etwa gleicher soziodemografischer Struktur und weiterer Lebenserwartung der über 60-Jährigen. Die gezielte Begrenzung solcher medizinisch nicht begründbaren Mengenentwicklungen hat nicht nur Wirtschaftlichkeitseffekte, sondern dient auch der Qualitätssicherung der Versorgung.
Müssen wir mit steigenden GKV-Beiträgen rechnen?
Das hängt weniger von den GKV-Ausgaben ab als von den Beitragseinnahmen und der Lohnentwicklung. Trotz des konstanten BIP-Anteils der GKV-Ausgaben ist der durchschnittliche GKV-Beitragssatz zwischen 1995 und 2015 von 12,2 auf 15,7 Prozent gestiegen. In diesem Zeitraum wuchsen die beitragspflichtigen Einkommen der Versicherten um 30,7 Prozent, das BIP pro Erwerbstätigen hingegen um 54,1 Prozent. Wir hätten seit 25 Jahren Beitragssatzstabilität in der GKV, wenn die Löhne im selben Maße gestiegen wären wie das BIP.
Zudem werden die unteren und mittleren Einkommensgruppen durch die Krankenkassenbeiträge stärker belastet als die Versicherten mit einem über der Beitragsbemessungsgrenze von 4.350 Euro im Monat liegenden Einkommen. Hier ein Beispiel: Ein Angestellter mit einem Monatsgehalt von 8.000 Euro zahlt als freiwillig Versicherter aktuell einschließlich Zusatzbeitrag einen Monatsbeitrag von 682,95 Euro (= 15,7 Prozent von 4.350 Euro) und damit einen faktischen Beitragssatz von nur 8,5 Prozent. Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze in der GKV auf das in der Rentenversicherung geltende Niveau (6.350 Euro) würde die Sozialversicherungsabgaben um bis zu drei Prozentpunkte senken, je nach Höhe der Versicherungspflichtgrenze.
Sind die Abgabenquoten der Löhne in Deutschland zu hoch?
Nein. Sie bewegen sich in etwa auf dem gleichen Niveau wie in vergleichbaren europäischen Ländern. Allerdings gibt es Unterschiede in der Belastung nach Familienstand. Der aktuelle OECD-Report „Taxing Wages“ ergibt folgendes Bild:
- Die Abgabenquote der Bruttolöhne beträgt bei deutschen Singles 39,7 Prozent und liegt damit im OECD-Ranking auf Platz 2 hinter Belgien.
- Einverdiener-Haushalte mit zwei Kindern werden in Deutschland mit 21,3 Prozent des Bruttolohns belastet. Sie haben vor allem durch das Ehegattensplitting deutlich geringere Abgaben als in vergleichbaren europäischen Ländern wie Dänemark (32,2 Prozent), Finnland (30,7), Österreich (29,7) oder den Niederlanden (28,4). Auch DINKs (Double Income No Kids) haben geringere Abgaben als Singles.
Für einen internationalen Vergleich der Abgabenbelastung sind diese auf die Löhne bezogenen Quoten ungeeignet, weil sie die durch die Umsatz- und Verbrauchssteuern entstehenden Belastungsunterschiede nicht erfassen. Dänemark zum Beispiel kennt so gut wie keine Sozialabgaben. Das Sozialbudget wird fast komplett vom Staatshaushalt finanziert, was mit einer Mehrwertsteuer von 25 Prozent und Sondersteuern etwa auf Automobile von bis zu 100 Prozent des Nettoverkaufspreises verbunden ist. Daher ist für internationale Vergleiche der Abgabenbelastung nur der BIP-Anteil der Steuern und Abgaben aussagekräftig. Hier nimmt Deutschland im OECD-Ranking mit 36,9 Prozent einen mittleren Platz ein, zwischen Mexiko (17,4 Prozent) und den USA (26,4) am unteren Ende sowie Dänemark (45,8) und Frankreich (45,5) an der Spitze.
Gefährdet die Abschaffung des Zusatzbeitrages in der GKV Arbeitsplätze?
Nein. Der durchschnittliche nur von den Versicherten gezahlte Zusatzbeitrag liegt aktuell bei 1,1 Prozent, das heißt, seine paritätische Finanzierung würde die Arbeitgeber mit 0,55 Prozent der beitragspflichtigen Lohnsumme belasten. Das ist keine wirtschaftlich relevante Größenordnung, wie folgendes Beispiel zeigt. Die Bayerischen Handwerkskammern kalkulierten für das Jahr 2013 die durchschnittlichen Kosten für eine Handwerkerstunde mit 48,51 Euro (incl. Mehrwertsteuer). Davon entfielen auf den Bruttolohn 13,50 Euro und die gesetzlichen Sozialabgaben 4,98 Euro. Eine Erhöhung des Arbeitgeberanteils an den GKV-Beiträgen von 7,3 auf paritätische 7,85 Prozentpunkte würde zu einer Mehrbelastung von 7,4 Cent führen (0,55 Prozent von 13,50 Euro). Die Gesamtkosten einer Handwerkerstunde würden nur um 0,12 Prozent steigen, ein für die Nachfrage nach Handwerkerleistungen unerheblicher Effekt.
Können höhere Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt die Abgabenbelastung verringern und die privaten Haushalte entlasten?
Nein. Geringere Sozialabgaben würden mit höheren Steuern erkauft. Der damalige Gesundheitsminister Rösler wollte 2009 die lohnbezogenen GKV-Beiträge auf eine die durchschnittlichen Leistungsausgaben abdeckende Kopfpauschale umstellen. Kein Haushalt sollte mehr als 15 Prozent seines Einkommens dafür aufbringen müssen. Alle darüber hinausgehenden Kosten sollten aus dem Bundeshaushalt finanziert werden. Der hätte Mehrausgaben von circa 35 Milliarden Euro pro Jahr zu verzeichnen gehabt. Nach Berechnungen des Finanzministeriums hätte man die Mehrwertsteuer von 19 auf 23 Prozent oder alternativ die Einkommenssteuer linear um fünf Prozent anheben müssen (Bundestagsdrucksache 18/2117 vom 08.07.2014).
Was ist von der Argumentation also zu halten?
Die Kritik der Arbeitgeber und die Prognos-Studie beruhen auf fragwürdigen, teilweise falschen Annahmen.
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