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„In Krisenzeiten gelten die Gesetze der Kriegswirtschaft“

Historiker Luuk van Middelaar über die schwierige Rolle der EU in der Corona-Pandemie, das Brüsseler Vatikan-Problem und unbequeme geopolitische Wahrheiten.
Masken benötigt: Die EU ist für den Krisenmodus nicht gemacht.
Masken benötigt: Die EU ist für den Krisenmodus nicht gemacht. (Foto: Parastoo Maleki)

Luuk van Middelaar kam als Berater des niederländischen EU-Kommissars Frits Bolkestein nach Brüssel. Später war er Redenschreiber von Ratspräsident Herman Van Rompuy, heute lehrt der Historiker und Philosoph an der Universität Leiden. In seinem neuen Buch „Das europäische Pandämonium. Was die Pandemie über den Zustand der EU enthüllt“ hat er die politischen Folgen der Corona-Krise untersucht.

Herr van Middelaar, die Europäische Union steht wegen der Impfstoffbeschaffung heftig in der Kritik. Worin liegt die Schwierigkeit im Corona-Management der EU?
In Krisenzeiten herrschen eigene Gesetze. Seit Beginn der Pandemie hat das die Brüsseler Maschinerie komplett unterschätzt. Die EU-Kommission handelt stets nach ihrer ureigenen Doktrin: Marktwirtschaft und Preis regeln alles. In Krisenzeiten ist das aber anders, da gelten die Gesetze der Kriegswirtschaft. Dann heißt es, Beschaffung und Produktion sicherstellen. Zu Beginn der Pandemie ging es um Schutzmasken, jetzt um Impfstoff.

Was läuft in Krisenzeiten in der Wirtschaft anders?
In der Kriegswirtschaft geht es um Macht, nicht um den Preis. Donald Trump hat das schnell begriffen und angeordnet, dass der Autobauer General Motors Beatmungsgeräte produziert. Auch Emmanuel Macron hat in Frankreich auf Staatswirtschaft umgestellt. Nur die EU-Kommission vertraute auch in Krisenzeiten den alten Gesetzen des Marktes.

“Wenn man so will eine Art Vatikan-Problem: Das unfehlbare Zentrum hat verstanden, nur der Peripherie mangelt es an der nötigen Einsicht.”

Luuk van Middelaar über das Selbstverständnis der EU-Kommission

Woran liegt das?
Der Umgang mit der Kraft der öffentlichen Meinung ist der Brüsseler Welt merkwürdig fremd geblieben. Empörung, Wut, scharfe Kommentare, selbst konstruktive Vorschläge – das kommt in Brüssel nur sehr gedämpft an. Das liegt auch am Selbstverständnis der EU-Kommission als allwissende Expertin. Wenn man so will eine Art Vatikan-Problem: Das unfehlbare Zentrum hat verstanden, nur der Peripherie mangelt es an der nötigen Einsicht.

Eines der zentralen Argumente Ihrer Analyse der Pandemie-Politik der EU ist der Unterschied zwischen Regel- und Ereignispolitik. Was verstehen Sie darunter?
Jenseits der Idee als Friedensprojekt beruht die EU der Nachkriegsjahre auf dem Fundament des gemeinsamen Marktes. Feste Regeln und klare Richtlinien, fein austarierte Quoten – das stand jahrzehntelang im Zentrum der Arbeit der europäischen Kommission. Es geht um das Gleichgewicht zwischen den Staaten und de Gründlichkeit bei den Beratungen, der Faktor Zeit spielt eine untergeordnete Rolle. Dann dauert es eben mal ein paar Jahre bis zu einer Einigung. Nach außen hin vermittelte das mitunter den Eindruck von Langeweile – ein schönes deutsches Wort, das sehr gut ausdrückt, dass man Zeit im Überfluss hat.

Zur Person

Luuk van Middelaar ist am 9. Mai 1973 geboren, dem Europatag. Er studierte Geschichte und Philosophie in Groningen und Paris. In Brüssel arbeitete er zunächst für die EU-Kommission. 2009 wechselte er ins Team von EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy. Für „Vom Kontinent zur Union“ über die Geschichte der EU erhielt er den europäischen Buchpreis. Sein neues Buch: „Das europäische Pandämonium“ ist bei Suhrkamp erschienen und analysiert den Umgang der EU mit der Pandemie und den Krisen der vergangenen Jahre. Van Middelaar lebt in Brüssel und lehrt an der Universität Leiden.

In der Krise ist das anders?
Geduld ist in der Krise unverantwortlich. Dann muss man schnell und kraftvoll handeln. Das nenne ich Ereignispolitik. So wurde 2010 in der Eurokrise binnen 72 Stunden ein Rettungsfonds über 750 Milliarden Euro aus der Taufe gehoben. In der Flüchtlingskrise war Kanzlerin Angela Merkel im September 2015 gezwungen, an einem einzigen Wochenende eine weitreichende Entscheidung über Grenzöffnungen zu treffen. Dieses notwendige Tempo der Ereignispolitik verändert auch die Wirkung der europäischen Politik auf die Öffentlichkeit. Die klassische Regelpolitik betrifft in erster Linie Interessengruppen wie Wirtschaftsverbände, die stellen sich dann auf den Abbau von Zollkontrollen ein. Krisenpolitik aber geht alle an – als Steuerzahler, Wähler und Bürger. Das erzeugt eine europäische Öffentlichkeit und eine ganz andere Lautstärke der öffentlichen Debatte. Damit sind nicht alle in Brüssel vertraut.

“Weil die großen Krisen alle betreffen, wirkt Europapolitik nun als Innenpolitik, wie Angela Merkel sagte. Auch deshalb ist Europa jetzt Chefsache.”

Luuk van Middelaar

Welche Folgen hat der stete Krisenmechanismus für den politischen Betrieb?
Weil die großen Krisen alle betreffen, wirkt Europapolitik nun als Innenpolitik, wie Angela Merkel sagte. Auch deshalb ist Europa jetzt Chefsache. Sie liegt in der Verantwortung der Staats- und Regierungschefs: Angela Merkel, Emmanuel Macron, Sebastian Kurz und Mark Rutte in der Debatte über den Wiederaufbaufonds, das sind die prägenden Gestalten der Krisenpolitik. Ereignispolitik steht quer zum Instinkt des Brüsseler Maschinenraums und kommt nur unter dem Druck der Ereignisse zustande. Krisenpolitik erlaubt kein formelhaftes Schablonendenken nach Vorlage von Formblatt B. In Krisen muss improvisiert werden.

Eurokrise, Ukraine-Konflikt, Flüchtlingspolitik, Brexit, Corona – es scheint, als sei die Krise in Europa nicht mehr die Ausnahme, sondern eher der Dauerzustand…
Krisenpolitik berührt die großen Fragen des Zusammenlebens, das ist ungemein spannend. Die Eurokrise drehte sich um große Geldsummen sowie den Ausgleich zwischen Eigenverantwortlichkeit und Solidarität unter den Eurostaaten. Die Ukraine berührte die elementare Frage von Krieg und Frieden. In der Flüchtlingspolitik ging es um das Verhältnis der EU zu ihren Nachbarn, zu Fragen der Identität, Willkommenskultur und Sicherheit. Der Brexit erschütterte das Selbstverständnis der Unumkehrbarkeit der europäischen Integration. Krisen betreffen jeden.

“Mit Blick auf Marine Le Pen in Frankreich oder Matteo Salvini in Italien lässt sich sagen: Die Austrittsdebatten von damals in vielen Ländern sind verstummt. Auf dem Kontinent war der Brexit insofern durchaus lehrreich.”

Luuk van Middelaar

Das Improvisieren fällt schwer. In der Migrationspolitik prallt Regel- auf Ereignispolitik. Das Ergebnis ist die Flüchtlingsquote…
Die EU versuchte in der Flüchtlingskrise auf neue Herausforderungen mit dem alten Instrumentenkasten zu reagieren: Verteilungspolitik. Dafür hatte die EU-Kommission über Jahrzehnte eine fein ausgetüftelte Methodik entwickelt. Was für den Fisch passt, passt aber noch lange nicht für Menschen. Das verfehlte Krisenmanagement mit Quotenregelungen hatte Folgen: Die Spannungen zwischen Ost und West wirken bis heute nach. Für mich war das Vorgehen der EU in der Migrationspolitik von 2015 eine technokratische Hybris.

Das würde bedeuten, den Brexit hat die EU auch deshalb gut gemanagt, weil es vornehmlich um Binnenmarktfragen ging – also klassische, alte Regelpolitik?
Der Brexit war ein großer Schock. Aber die EU musste nicht unmittelbar handeln. Es brauchte neun Monate, bis die britische Regierung das Scheidungsgesuch einreichte. Zeit genug, um sich vorzubereiten. Aber, was Europa schnell begriffen hat, ist die Botschaft der britischen Wählerinnen und Wähler: Europa ist nicht allein eine Chance für die mobilen Eliten, die sich eloquent über den ganzen Kontinent bewegen, um Geschäfte zu machen oder zu studieren. Europa muss auch allen anderen Schutz bieten, etwa vor den Veränderungen der Globalisierung. „Une Europe, qui protège“, ein Europa, das schützt, heißt es in Frankreich. Das haben jetzt alle begriffen. Die Pandemie hat die Schutzfunktion Europas dann auf ganze andere Art unterstrichen.

Das Vereinigte Königreich punktete mit mit beeindruckenden Impfzahlen, öffnete früh seine Pubs. Die EU verhängte einen Exportstopp für AstraZeneca, stornierte nun seine Order für den Impfstoff. Es wirkt so, als würden sich EU und Großbritannien einen Wettkampf liefern, wer besser fährt – die Mitgliedstaaten oder London mit seiner neuen Unabhängigkeit?
Der Brexit war ja keine harmonische Trennung. Austritt oder gemeinsam weiter in der EU – beide Parteien mussten ihrer Bevölkerung beweisen, dass sie mit ihrer Entscheidung richtig lagen. Der Brexit ist beides: ein Erfolg und ein Fehler, ein Widerspruch in sich. Für die EU ist es besser gute Beziehungen zu einem großen Nachbarn zu haben, Großbritannien ist nicht die Schweiz oder Norwegen. Zugleich muss sie demonstrieren, dass ein Austritt negative Konsequenzen hat. Mit Blick auf Marine Le Pen in Frankreich oder Matteo Salvini in Italien lässt sich sagen: Die Austrittsdebatten von damals in vielen Ländern sind verstummt. Auf dem Kontinent war der Brexit insofern durchaus lehrreich.

“Geopolitik ist viel radikaler, als man sich das in der Brüssel, Berlin oder Den Haag vorstellt. Es bedeutet: In Kategorien der Machtpolitik zu denken, auch räumlich zu denken, das heißt, sich von einer Vision der Welt zu lösen, die nur Freunde einschließt.”

Luuk van Middelaar

Der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker mahnte, Europa müsse weltpolitikfähig werden. Ursula von der Leyen hat eine geopolitische Kommission angekündigt. Wie kann sich Europa zwischen China und den USA bewähren?
Ich persönlich bevorzuge den Ausdruck geopolitische Union. Macron spricht von europäischer Souveränität, Merkel erklärt, Europa müsse sein Schicksal selbst in die Hand nehmen, der Außenbeauftragte Josep Borrell mahnt, Europa müsse die Sprache der Macht lernen. Aber all das muss mehr beinhalten als bloße rhetorische Beschwörungen.

Wie meinen Sie das?
Geopolitik ist viel radikaler, als man sich das in der Brüssel, Berlin oder Den Haag vorstellt. Es bedeutet: In Kategorien der Machtpolitik zu denken, auch räumlich zu denken, das heißt, sich von einer Vision der Welt zu lösen, die nur Freunde einschließt. Und dass man auch zeitlich denkt, also sich positioniert zwischen Vergangenheit und offener Zukunft. Das „Ende der Geschichte“, wie es Francis Fukuyama beschworen und Europa stets herbeigesehnt hat, ist ein Traum. Die Geschichte, sprich der Systemwettstreit, ist zurück. Die EU muss dem ins Auge sehen. Europa muss öffentlich über seine Werte und Interessen debattieren. Sonst enden wir als Paladin an der Seite der USA im neuen kalten Krieg mit China.

Die EU hat mit China Ende des vergangenen Jahres das Investitionsabkommen CAI abgeschlossen, sehr zum Missfallen der USA. Nach dem Vorgehen Chinas gegen EU-Politiker, darunter die deutschen Europaabgeordneten Reinhard Bütikofer (Grüne) und Michael Gahler (CDU) liegt das Abkommen nun erstmal auf Eis…
Die EU muss einen Weg finden zwischen ihren Werten und ihren Interessen. Und da komme ich zur Regel- und Ereignispolitik. Europa braucht diesen Wandel am nötigsten in der Geopolitik. Auf der Weltbühne gibt es nur Ereignispolitik. Deshalb muss die EU ihre außenpolitischen Entscheidungswege strategischer angehen und überzeugender gestalten.

“Politisch war die Einigung auf den Aufbaufonds im vergangenen Sommer von großer Bedeutung. (…) Er hat das gegenseitige Vertrauen unter den EU-Staaten wiederhergestellt.”

Luuk van Middelaar

Ihr Buch trägt den Titel „Das europäische Pandämonium“ – Europa als Zwischenreich. Die EU ist immer in Krisen gewachsen, gilt das auch für die Corona-Krise? Oder bleiben Narben und Verwerfungen zurück?
In der Gesundheitspolitik ist mit der gemeinsamen Impfstoffbeschaffung ein Schritt getan, aber da – sagen wir es diplomatisch – muss die EU sich noch endgültig beweisen. Der andere, weitreichende Beschluss ist der Wiederaufbaufonds Next Generation EU über 750 Milliarden Euro mit Zuschüssen für die Wiederbelebung der Wirtschaft und der erstmaligen Ausgabe von gemeinsamen Schuldtiteln in großem Rahmen – das ist ein doppelter Durchbruch, und der hat Konsequenzen. Für Deutschland, das hat das Bundesverfassungsgericht schon angedeutet, rührt das am Sakrileg der Schuldenunion. Deshalb betont die Bundesregierung die Einmaligkeit des Vorgehens. Frankreich, Italien und die Kommission sprechen hingegen lieber von einem Präzedenzfall. Dann wäre es ein echter Schritt nach vorn.

Und wie fällt Ihre Einschätzung aus?
Politisch war die Einigung auf den Aufbaufonds im vergangenen Sommer von großer Bedeutung. Nach all den Verwerfung über Schutzmasken und Grenzschließungen im Frühjahr vergangenen Jahres hat der historische Gipfelbeschluss vom Juli 2020 das gegenseitige Vertrauen unter den EU-Staaten wiederhergestellt. Das ist nicht zu unterschätzen. Zugleich gilt: Der Aufbaufonds muss sich ökonomisch beweisen, etwa in Italien. Europa braucht also wieder mal Zeit.

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