Herr Löwisch, die Lokführergewerkschaft GDL beansprucht ein Verhandlungsmandat für alle Berufsgruppen der Eisenbahn. Das Tarifeinheitsgesetz (TEG) steht dem entgegen, da in einer weit überwiegenden Zahl der Betriebe die Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG die Mehrheit der Mitglieder vorweisen kann. Das TEG wurde ja geschaffen, um Streiks von Spartengewerkschaften einzudämmen. Zeigt der aktuelle Konflikt bei der Deutschen Bahn nicht, dass es ein untaugliches, wenn nicht gar kontraproduktives Gesetz ist?
Das Tarifeinheitsgesetz steht der Absicht der GDL, für alle Berufsgruppen einen Tarifvertrag abzuschließen, nicht entgegen. Eine Gewerkschaft bestimmt in ihrer Satzung die Tarifzuständigkeit. Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass die Tariffähigkeit unteilbar ist. Nur zu sagen, ihr vertretet nur wenige, also dürft ihr nicht abschließen, ist nicht möglich. Infolgedessen kann das Tarifeinheitsgesetz dies nicht verhindern. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederum entschieden, dass das Streikrecht vom TEG nicht beeinträchtigt wird. Man hat wohl spekuliert, dass die Leute kein Interesse an einem Arbeitskampf haben, weil ihr Tarifvertrag am Ende durch das TEG hinten runter fällt.
Warum streikt die GDL dann doch?
Dieser Spekulation haben ausgerechnet die Arbeitgeber und die EVG den Boden entzogen, indem sie bei ihrem Tarifabschluss eine Revisionsklausel vereinbart haben. Wenn die GDL einen Tarifvertrag abschließt, bei dem es mehr gibt als die EVG erreicht hat, kann die EVG den Vertrag kündigen. Dann wird dieser neu verhandelt und das Differenzvolumen zwischen beiden Verträgen auch der EVG zugute geschrieben. Die GDL kann sich also durchsetzen und handelt damit gleichzeitig für die EVG. So hat die GDL etwas von ihrem Arbeitskampf.
Manfred Löwisch ist emeritierter Professor für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht, Arbeitsrecht und Sozialversicherungsrecht. Er hat mehrfach Arbeitgeber als Rechtsinterpret und Anwalt in Tariffragen vertreten. Löwisch war Richter am Oberlandesgericht Karlsruhe und Rektor der Universität Freiburg. (Foto: privat)
Handelt es sich bei der aktuellen Auseinandersetzung um einen politischen Streik im Mantel einer Entgeltrunde?
Das wäre nur der Fall, wenn die GDL von der Politik eine neue Regelung erstreiten wollte, etwa eine Änderung des Tarifeinheitsgesetzes. Das will sie aber gar nicht, sondern bessere Arbeitsbedingungen durchsetzen.
Lässt sich dieser Konflikt überhaupt auf dem Verhandlungsweg lösen, wenn die GDL bei ihrem Vertretungsanspruch bleibt?
Der Konflikt lässt sich nur lösen, wenn sich alle drei Seiten an einen Tisch setzen. Es gibt ja im Krankenhausbereich ähnliche Verhältnisse mit dem Marburger Bund und Verdi. Dort hat man sich arrangiert. Der Marburger Bund kümmert sich im Schwerpunkt um die Ärzte und Verdi um das Krankenhauspersonal. So eine Tarifgemeinschaft gab es bei der Bahn bis 2002 auch. Darauf muss man zurückkommen.
Wo verläuft in diesem Falle eine Grenzlinie zwischen einem verhältnismäßigen und einem unverhältnismäßigen Arbeitskampf?
Herr Weselsky ist schon schlau, wenn er einen unbefristeten Streik ausschließt. Unbefristete Streiks können in die Unverhältnismäßigkeit führen, wenn die Mindestversorgung mit Transportleistungen nicht mehr gewährleistet ist. Davon sind wir noch weit entfernt. Wenn aber die Streiks im kommenden Jahr immer noch nicht beendet worden sind, nähert sich der Arbeitskampf irgendwann der Grenzlinie.
Wie sähe ein besserer gesetzlicher Rahmen für derlei Tarifkonstellationen aus?
Man könnte an eine Ergänzung des Tarifeinheitsgesetzes in Form einer Aufforderung an die Tarifparteien denken, sie sollten am Verhandlungstisch gemeinsam eine Lösung suchen. Dann würde zumindest ein gewisser öffentlicher Druck entstehen, sich Gesprächen nicht zu entziehen. Es wäre eine Art Prävention potenzieller Konflikte. Wenn dann nichts passiert, könnte das Arbeitsministerium oder jemand anderes zu Gesprächen laden. Das ist bei der Badischen Landesschlichtungsverordnung beispielsweise so vorgesehen.
Mit welchem weiteren Verlauf des Konfliktes rechnen Sie?
Letzten Endes läuft es darauf hinaus, dass sich die Bahn mit der GDL auf einigermaßen konkrete Verhandlungen einlässt. Dabei kommt ein Ergebnis heraus, das über das der EVG hinausgeht, etwa mit einer Corona-Prämie oder einer kürzeren Laufzeit des Vertrages. Knurrend wird die Bahn dasselbe der EVG auch zubilligen. Es sei denn, man verständigt sich vorher anders. Aber das ist nicht zu erwarten. Da bleibt der Bahn nichts anderes übrig, als konkret etwas draufzulegen.