Mitten in der Urlaubszeit legen die Lokführerinnen und Lokführer der Deutschen Bahn die Arbeit nieder und erschweren so das Reisen. Noch bis Mittwoch, 2.00 Uhr, soll der Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bei der Deutschen Bahn dauern. Der Konzern versucht ein Mindestangebot aufrechtzuerhalten.
Man verzeichne eine insgesamt “ruhige Betriebslage”, teilte das Unternehmen am Dienstagmittag mit. “Auch am zweiten Streiktag läuft das verlässliche Grundangebot stabil. Im Fernverkehr sind rund 30 Prozent der Züge unterwegs. Im Regional- und S-Bahnverkehr liegt das Angebot bei rund 40 Prozent.” Für Mittwoch werde die Rückkehr zum Normalbetrieb vorbereitet.
Doch wann der Konflikt zwischen der Gewerkschaft GDL und der Deutschen Bahn gelöst werden wird, ist offen. Dafür werden noch viele Verhandlungsstunden nötig sein. Verschärft wird die Auseinandersetzung durch die Rivalität der kleinen GDL mit der Eisenbahnverkehrsgewerkschaft EVG – und durch ein umstrittenes Gesetz.
Warum gibt es zwei Bahngewerkschaften?
Die Eisenbahner in Deutschland haben schon früh berufsgruppenspezifische Vereine gegründet. 1866 entstand der Verein Deutscher Lokomotivführer, der 1920 zur Gewerkschaft wurde und sich später mit anderen Eisenbahnbeamten zu einer Beamtengewerkschaft zusammentat, aber autonom blieb. Lokführer waren damals durchweg Beamte. Demgegenüber gründeten auch die Arbeiter bei den Bahnen ihre Vereine und schließlich 1925 eine Einheitsgewerkschaft.
Komplizierter als in anderen Branchen ging es auch in den letzten Jahrzehnten zu. 2010 fusionierte die Gewerkschaft Transnet mit der Beamtenorganisation GDBA zur heutigen Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft. Die GDL blieb außen vor. Die drei Gewerkschaften bildeten immerhin bis 2002 eine Tarifgemeinschaft, aus der die GDL dann ausstieg, weil sie einen Ergänzungstarifvertrag für den Nahverkehr nicht abnicken wollte. Anschließend erstritt die GDL auch ein Verhandlungsmandat für das Zugpersonal. Nun will sie auch die weiteren Berufsgruppen bei der Eisenbahn vertreten.
Hat stets die größere Gewerkschaft in einem Betrieb das Sagen?
So sieht es das 2015 eingeführte Tarifeinheitsgesetz (TEG) vor. Es soll die Kollision von Tarifverträgen verschiedener Gewerkschaften verhindern. Sonst würden womöglich in einem Betriebe mehrere Arbeitszeitregelungen gelten. So kommt mit dem TEG in jedem Betrieb nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern zur Geltung. Kritiker nannten das TEG auch „Lex Bahn“, weil auf diese Weise die kampfstarke GDL weitgehend entmachtet wird. Diese Entmachtung war in den vergangenen Jahren nicht spürbar. Denn in einem Grundlagenvertrag hatten sich Bahn und Gewerkschaften auf ein Koexistenzmodell geeinigt, so dass die Verträge beider Gewerkschaften galten. Diese Regelung lief Ende 2020 aus.
In welchen Betrieben regiert welche Gewerkschaft?
Traditionell vertritt die GDL die Lokführer. Seit 2015 schließt sie auch Tarifverträge für das Zugpersonal, also die Zugbegleiter oder die Beschäftigten der Bordgastronomie ab. In den Betrieben, die vor allem diese Berufsgruppen beschäftigen, stellt die GDL die Mehrheit der Mitglieder. Dagegen ist die EVG stark in den Betrieben, die zur Infrastruktur, den Bahnhöfen oder der Energiesparte gehören. In Zahlen liest es sich so: Von den rund 300 Betrieben der Bahn zählen 174 zum Eisenbahngeschäft in Deutschland. In 71 Betrieben sind beide Gewerkschaften vertreten. Nur in 16 Betrieben weist die Deutsche Bahn der GDL die Mehrheit der Mitglieder zu. Die Mehrheitsverhältnisse spiegeln die Mitgliederzahlen wieder. Die EVG hat über 190.000 Mitglieder, die Hälfte davon sind Rentner. Die GDL gibt ihre Mitgliederzahl mit 37.000 an, davon ist knapp jeder fünfte bereits im Ruhestand.
Wie werden die Mehrheitsverhältnisse überhaupt festgestellt?
Das ist ein weiterer Konfliktherd. Denn niemand muss seine Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft offenlegen. Daher schätzt die Deutsche Bahn als Arbeitgeber das Kräfteverhältnis, zum Beispiel anhand der Ergebnisse von Betriebsratswahlen. Das Unternehmen wollte zunächst Notare beauftragen bei den Gewerkschaften ihre Mitgliedszahlen abzufragen. Die EVG war dazu bereit, die GDL nicht.
Die Lokführer zweifeln die Schätzung der Arbeitgeber an, klagen gegen die Anwendung des TEG und wollen die tatsächlichen Machtverhältnisse von Gerichten prüfen lassen. Es wäre die erste Entscheidung eines Gerichts in dieser Frage. Bisher hat die GDL alle Klagen auf eine einstweilige Verfügung verloren. Doch in der Sache selbst haben die Gerichte noch nichts entschieden. Wahrscheinlich wird irgendwann das Bundesarbeitsgericht ein Grundsatzurteil fällen müssen.
Wie wehrt sich die GDL gegen ihre drohende Bedeutungslosigkeit?
Die GDL hat im vergangenen November die Flucht nach vorne angetreten. Mit einer massiven Kampagne will sie der EVG Mitglieder abwerben und so die Mehrheit in weiteren Betrieben erreichen. Zimperlich geht es dabei nicht zu. Die Lokführer bezeichnen die EVG als „Einkommens-Verhinderungs-Gewerkschaft“ oder werfen ihr Kungeleien mit dem Bahnvorstand vor. Diesen Vorwurf weist die große Gewerkschaft zurück. Doch ihr Einfluss auf die Unternehmenspolitik ist in der Tat höher als der der GDL. Das zeigt sich etwa in der Besetzung des Aufsichtsrates der DB AG. Die Arbeitnehmer stellen dort neun Mitglieder, acht stellt die EVG, nur eines die GDL.
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