Die vergangenen zwei Jahre der Corona-Pandemie haben gezeigt, wie sich eine tiefe, unvorhergesehene Wirtschaftskrise einigermaßen bewältigen lässt. Zeitweise wurden ganze Branchen vorübergehend geschlossen. 2020 brach das Bruttoinlandsprodukt um fünf Prozent ein.
Über solche Größenordnungen reden Ökonominnen und Ökonomen auch jetzt wieder, wenn es um die Energielieferungen aus Russland geht. Welchen Schaden erlitten die hiesigen Firmen, Beschäftigten und Privathaushalte, sollte die russische Regierung die Versorgung des Westens kappen? Die gleiche Frage stellt sich für den Fall, dass die Bundesregierung den Stopp der Lieferungen als Sanktion gegen den kriegführenden Staat im Osten einsetzte.
Folgen eines russischen Energieboykotts sind unberechenbar
Wobei niemand weiß, wie schlimm es werden würde – mangels Erfahrung. So diskutiert die Wirtschaftsforschung hin und her. Eine Seite, unter anderem Moritz Schularick von der Universität Bonn und die Leopoldina, die Akademie der Wissenschaften in Halle, sagt, der Energieboykott sei „handhabbar”. Die Wirtschaft breche dann vielleicht um drei Prozent pro
Jahr ein. Die andere Seite, unter anderem Sebastian Dullien vom Institut für Makroökonomie in Düsseldorf, warnt vor einer Verharmlosung der Folgen. Die Wirtschaftskrise könne schon deshalb bitter werden, weil gleichzeitig die Inflation gefährlich anziehe.
Die Debatte findet auch auf politischer Ebene statt. Politiker der Union wie Norbert Röttgen und Wolfgang Schäuble fordern eine härtere Gangart gegenüber der russischen Regierung. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) prognostiziert dagegen Schäden „schwersten Ausmaßes”, wenn man die russischen Energielieferungen schnell kappe. Laut Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) könne das „unglaublich viele Arbeitsplätze” kosten.
Lehren aus der Corona-Krise
Aber kann die Politik in dieser Diskussion nicht Rückschlüsse aus der Corona-Krise ziehen? Der Schock 2020 war heftig. Im April jenes Jahres waren sechs Millionen Beschäftigte – ein Siebtel aller Arbeitnehmer – in Kurzarbeit, weil ihre Firmen schließen mussten oder nur noch wenig zu tun hatten. Im Durchschnitt 2020 arbeiteten drei Millionen Leute kürzer als normal.
Trotzdem stürzte das Land nicht in die Katastrophe, denn die Bundesregierung übernahm die Verluste. Im Prinzip kamen die ausgefallenen Löhne damals von der Bundesagentur für Arbeit, nicht von den Unternehmen. Das kostete 2020 und 2021 etwa 46 Milliarden Euro.
Vielen Unternehmen ersetzte der Staat ebenfalls einen Teil ihrer Einnahmen, um sie am Leben zu halten.
Schuldenbremse müsste 2023 ausgesetzt werden
Eine ähnliche Herangehensweise würde vermutlich in diesem Jahr auch auf eine große Energiekrise folgen. Sollten beispielsweise sechs Millionen Beschäftigte faktisch arbeitslos werden und die Bundesagentur ihre Gehälter im Rahmen der Kurzarbeiter-Regelung weiterzahlen, beliefen sich die jährlichen Kosten auf eine vergleichbare Größenordnung wie in der Corona-Krise. Hinzu kämen weitere Entlastungen zugunsten von Privathaushalten und Firmen angesichts zusätzlich steigender Energiepreise. Unter dem Strich liefe das vielleicht auf 100 bis 150 Milliarden Euro zusätzlicher Staatsschulden in diesem Jahr hinaus. 2023 könnte ein ähnlicher Betrag fällig werden.
Solche Größenordnungen klingen erschreckend, sind gesetzlich aber möglich und stellen nicht die Stabilität der Staatsfinanzen in Frage. Zum Vergleich: Im laufenden Jahr will die Ampel-Koalition sowieso neue Kredite von 200 Milliarden Euro aufnehmen. Im nächsten Jahr wäre es für eine solche Operation nochmals nötig, die Schuldenbremse auszusetzen und
eine Notlage zu erklären.
Russischer Energieboykott gravierender als die Corona-Krise
Geht es also eigentlich nur um zusätzliche Staatsschulden, mit denen sich der Energieboykott gegenüber Russland erkaufen und abfedern ließe? „Eher nein”, sagt Andreas Fischer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. „Einerseits kann es einige Jahre dauern, bis wir die Lücke beim Import von Erdgas schließen.” Ähnlich wie die Bundesregierung geht Fischer von einer Übergangszeit von mindestens zwei Jahren aus, die
überbrückt werden müssten. Habeck hatte in Aussicht gestellt, dass die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen 2024 überwunden sein könnte. Schon das wäre „ein Kraftakt”, meint Fischer, „und den exakten Zeitraum kennen wir nicht”.
Zweitens hält der Ökonom „die potenziellen Folgen eines Energieboykotts für gravierender als die der Corona-Krise”. Zwar war die Veranstaltungsbranche während der vergangenen zwei Jahre weitgehend lahmgelegt. Dabei ging es um eine Million Jobs. Darüberhinaus war aber keine Branche komplett und dauerhaft geschlossen. Dagegen warnt nun Michael Vassiliadis, Chef der Chemiegewerkschaft IG BCE, dass etwa die gesamte Produktion bei BASF und zahlreichen weiteren Firmen in Ludwigshafen, dem größten Chemie-Standort Europas, „runtergefahren” würde, sollte kein Erdgas mehr kommen. Das könnte „hunderttausende Arbeitsplätze kosten”, so Vassiliadis. „Wenn 50 Prozent des Gases
fehlen, dann steht die Masse der Betriebe in der deutschen Industrie still”, sagt Stefan Wolf, Präsident des Verbandes Gesamtmetall.
Neuverschuldungen gehen auf Kosten der jungen Generationen
Das liegt an der Bedeutung von Erdgas für die Fertigung. „Es dient als Energie für die Wärmerzeugung, aber auch als Grundstoff für die Produktion, etwa von Ammoniak in der Dünger-Herstellung”, erklärt Ökonom Fischer. So könnten zahlreiche Unternehmen nicht mehr arbeiten, wenn die Vorprodukte fehlen. Alleine die Chemie-, Ernährungs- und
Metallindustrien kommen auf zusammen zwei Millionen Arbeitsplätze. Belastbare Schätzungen, wieviele Jobs in der Energiekrise gefährdet wären, gibt es jedoch nicht.
Von den unmittelbaren ökonomischen Schäden abgesehen könnte die steigende Staatsverschuldung auch langfristige Probleme mit sich bringen. Wegen der momentanen Konstruktion der Schuldenbremse müssen die Kredite später zurückgezahlt werden, was dann den finanziellen Spielraum schmälert. Einen ähnlichen Effekt hätten steigende Zinsen. Und wenn sich der Staat heute schon mit Schulden vollpumpt, haben die nachfolgenden
Generationen weniger Möglichkeiten dazu. Gegenwärtige Krisen mit Schulden abzufedern, kann künftigen Wohlstand schmälern.
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