Kiel will weg vom Müll. Die schleswig-holsteinische Landeshauptstadt will „Zero-Waste-City” werden. Wörtlich übersetzt heißt das: „Null Abfall Stadt”. Kiel ist damit Vorreiterin in Deutschland. Aber schon ziehen andere nach – Bamberg, Berlin, Düsseldorf, Köln, Regensburg, München. Und dabei wird es kaum bleiben.
Henning Wilts, ein Ökonom, denkt neue Wege vor, um Abfall zu vermeiden und knappe Ressourcen zu schonen. Am Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie leitet er die Abteilung Kreislaufwirtschaft. Er beobachtet: „Da ist richtig Wumms drin, viele Kommunen wollen den Abfalltrend jetzt drehen.” Der Abfalltrend kennt bisher nur eine Richtung: nach oben.
Deutschland produziert europaweit mit am meisten Müll
In kaum einem anderen Land der Europäischen Union wird so viel in die verschiedenen Mülltonnen und -säcke gestopft wie in Deutschland. Im Jahr 2020 entsorgte hierzulande jede Person – das rechnet die Statistikbehörde Eurostat vor – 632 Kilo Müll und damit 67 Kilo mehr als noch 2005. Deutschland ist eine Wegwerfgesellschaft.
Dabei ist schon in den 1990er Jahren, der Bundesumweltminister hieß Klaus Töpfer, die Kreislaufwirtschaft eingeführt worden. Seither gilt die Regel: Vermeiden ist besser als wiederverwenden. Wiederverwenden ist besser als Recycling. Zu guter Letzt: Recycling ist besser als verbrennen. Schaffen das Städte jetzt – wirklich?
Kiel als Zero Waste City
Experte Wilts meint: „Allerorten gibt es Menschen, die Repaircafés, Unverpacktläden aufmachen, eine Koalition der Willigen.” Oft gäben sie den Anstoß – wie in Kiel. Dort hat 2014 der erste Lebensmittelladen Deutschlands aufgemacht, in dem es an nichts fehlt, nur an Verpackungen. Wer dort einkauft füllt sich Nudeln, Linsen, Gummibären in selbst mitgebrachte Behälter ab. So soll Müll vermieden werden. Die Besitzerin Marie Delaperrière ging dann 2018 auf die Stadt zu – mit Erfolg.
Schon kurz darauf traf der Stadtrat den Beschluss: Kiel macht sich auf den Weg, schließt sich als erste Stadt hierzulande dem Netzwerk „Zero Waste Europe” an, in dem sich europaweit schon mehr als 400 Städte zusammen getan haben. Die italienische Gemeinde Capannori, in der Toskana gelegen, hatte sich als erste Gemeinde in Europa schon 2007 entschieden Zero Waste City zu werden. Ihren Ursprung hat die Bewegung in den USA. San Francisco – Kiels Partnerstadt – hat dem Müll schon 2001 den Kampf angesagt.
Kiels Plan zur Zero Waste City
Kiel zahlt nun zum Beispiel 200 Euro Zuschuss für Stoffwindeln. „Im Schnitt verbraucht ein Kind 6.000 Einweg-Windeln, bevor es trocken ist”, erklärt Selina Kahl, die das Zero-Waste-Projekt der Stadt leitet. Aber haben Stoffwindeln, die gewaschen und getrocknet werden müssen, nicht eine schlechtere Energiebilanz? Kahl: „Das hängt davon ab, ob die Waschmaschine voll oder halbleer läuft, mit wie viel Grad gewaschen wird, wie viel Strom und Wasser sie braucht. Den Wegwerfmüll – im Schnitt eine Tonne Abfall pro Kind – haben Sie jedenfalls nicht.”
Das ist nicht alles. Die Stadt hat nach Runden mit Bürgerinnen und Bürgern, Abfallentsorgern, Gewerbeleuten und anderen Personen innerhalb von anderthalb Jahren einen Katalog mit gut 100 Maßnahmen entwickelt. Die Stadtbücherei verleiht seit kurzem zum Beispiel Nähmaschinen, Skateboards, Werkzeug, verschiedene Gebrauchsgegenstände. Die Abfallentsorger analysieren, was alles falsch in welcher Mülltonne landet, damit sich später sagen lässt, was besser laufen könnte und wo es noch mehr Informationen für Bürgerinnen und Bürger braucht.
Denn: Wer weiß schon genau, ob die Käserinde in die schwarze Tonne für Restmüll oder die braune Biotonne gehört? Es ist die Biotonne. Oder der Pizzakarton: Restmüll wenn dreckig, sonst zählt er eigentlich zu Verpackungen, gehört damit in die gelbe Tonne. Dabei würde er theoretisch auch in die blaue Altpapiertonne passen.
Kiel will seinen Müll um 15 Prozent verringern
Kiel will so bis 2035 die Menge, die jeder Einwohner pro Jahr in die schwarze Tonne für Restabfälle wirft, im Vergleich zu 2017 halbieren – und die seines Mülls insgesamt um 15 Prozent mindern. Es ist ein Etappenziel. Ohne rechtliche Regelungen von Seiten der EU und der Bundesregierung werde das Müllproblem allerdings nicht in den Griff zu bekommen sein, meint Experte Wilts.
„Produkte müssen so designt werden, dass sie langlebig sind, zu reparieren und wiederzuverwerten. Dafür braucht es Vorgaben, also die Politik”, sagt er. Das sei im Interesse aller. Mit Corona und dem furchtbaren Ukrainekrieg seien Lieferketten löchrig geworden, Preise für Rohstoffe gestiegen. So sei der Druck mit Rohstoffen sorgsam umzugehen und sie nicht einfach in den Müll zu werfen nochmals gewachsen. In Schweden zum Beispiel gebe es Steuervegünstigungen für Reparaturen.
Zero-Waste-Städte wie Kiel zeigten aber, sagt Wilts: „Die Wegwerfgesellschaft kann sich ändern. Sie will es. Es geht.”
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