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Zeitenwende in Berlin

In einer Sondersitzung des Parlaments vollzieht die Regierung eine Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik. Eine Übersicht.
Bundeskanzler Olaf Scholz: „Zeitenwende" für Deutschland. (Foto: SPD)
Bundeskanzler Olaf Scholz: „Zeitenwende” für Deutschland. (Foto: SPD)

In der Ukraine herrscht Krieg, russische Truppen nehmen zunehmend die Hauptstadt Kiew unter Beschuss. In Deutschland ist die Bundesregierung am vergangenen Sonntag zu einer Sondersitzung zusammengekommen. Ein Überblick über die zentralen Aussagen und Forderungen.

Die Botschaft des Kanzlers

In seiner zwanzigminütigen Regierungserklärung am Sonntagvormittag umreißt Kanzler Olaf Scholz (SPD) die außen- und sicherheitspolitische Wende seiner Bundesregierung. Die Atmosphäre im Bundestag ist emotional und hochkonzentriert. Zentraler Punkt von Scholz ist die verbesserte Ausrüstung der Bundeswehr mit einem einmaligen „Sondervermögen” von 100 Milliarden Euro, die er grundgesetzlich absichern möchte. Zudem werde Deutschland für seine eigene Sicherheit künftig „Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren”. Um Energieabhängigkeit vorzubeugen, kündigt Scholz den beschleunigten Bau von zwei Terminals für Flüssigerdgas in Wilhelmshaven und Brunsbüttel an. Das Land und die Welt stünden vor einer „Zeitenwende”, betont Scholz; Russlands Präsident Wladimir Putin nennt er einen Kriegstreiber. Mehrfach während seiner Rede applaudieren Abgeordnete – auch aus der Unionsfraktion – stehend.

Friedrich Merz’ „Ja, aber”

Unionsfraktionschef Friedrich Merz versichert dem ukrainischen Volk seine Solidarität. Er bedauere, „dass wir dem Land nicht schon früher helfen konnten”, sagt er. Namens der Fraktion dankt Merz dem Kanzler für dessen Regierungserklärung. Die Union bringe gemeinsam mit der Ampel den Entschließungsantrag ein, bei dem es sich um „das Minimum” gemeinsamen Handelns handele. Gegen den Kriegsverbrecher Wladimir Putin halte man zusammen, und dafür habe die Bundesregierung die Unterstützung seiner Fraktion. Doch über das von Scholz in den Blick genommene „Sondervermögen” für Rüstungsausgaben sei noch zu reden, denn dies sei nichts anderes als eine Neuverschuldung. An die Demonstrierenden im Land gerichtet, sagt er: Lichterketten seien eine schöne Sache. „Aber mit Moral allein wird die Welt nicht friedlich.” Dass Russland gezielt vom SWIFT-Zahlungssystem ausgeschlossen werde, sei richtig. „Genug ist genug, das Spiel ist aus.”

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Diese Rede wird bleiben

Wirtschaftsminister Robert Habeck ordnet die Pläne der Koalition noch einmal ein. Bei der Unterstützung der Ukraine gehe es um die Freiheit im ganzen. Das Land werde von Putin vergewaltigt, dem müsse jetzt entgegengetreten werden. Doch Habeck blickt auch kritisch zurück. Eine Ursache für Putins Erstarken seien die hochgehaltenen Prinzipien des Westens. „Wir waren politisch nicht wachsam und klar genug.” Pazifismus sei nun aber keine Option mehr. So schwer die Entscheidung für Waffenlieferungen sei – „sie ist richtig. Aber ob sie gut ist, das weiß heute keiner.” Die Bundesregierung werde alles dafür tun, den Schaden vom deutschen Volk fernhalten. Dazu gehöre auch die schnelle energiepolitische Souveränität. Aber: „Wir kommen mit sauberen Händen aus der Sache nicht raus.”

Baerbock spricht Klartext

Außenministerin Annalena Baerbock spricht von einer Zeitenwende. „Das könnten wir und unsere Kinder in den U-Bahnschächten sein”, sagt die Grüne. Dem auf der Besuchertribüne zuhörenden ukrainischen Botschafter versichert sie, dass sein Land nicht allein gelassen werde. Die Charta der Vereinten Nationen müsse verteidigt werden, deshalb lasse Deutschland nun seine außenpolitische Zurückhaltung hinter sich. „Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein.” Fragen von Krieg und Frieden müssten in voller Verantwortung neu entschieden werden, dafür müssten die Parlamentsfraktionen zusammenstehen. Unionsfraktionschef Merz hört ihr aufmerksam zu.

So will Lindner das finanzieren

Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner schlägt eine ernste Tonlage an. Es reiche nicht mehr, über Freiheit und Solidarität zu reden – „jetzt ist die Zeit, die Werte des Grundgesetzes zu leben”, sagt der Finanzminister. Die Aggression Russlands sei das Ende aller Illusionen. Deutschland stehe solidarisch an der Seite der Ukraine als souveränem Staat. Beschlossene Sanktionen sei man als „Preis der Freiheit” bereit zu tragen. Schnelle Investitionen in Technologie begründet er mit dem Satz „Erneuerbare Energien sind Freiheitsenergien”. Lindner bekräftigt die Gültigkeit der Schuldenbremse – aber die Ertüchtigung der Bundeswehr sei nicht aus laufenden Mitteln zu bezahlen. Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen wolle man durch das Grundgesetz absichern – dafür brauche es die Unterstützung der Opposition.

Die AfD und die Schuldfrage

AfD-Fraktionschefin Alice Weidel kritisiert, dass eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine nie wirklich zur Debatte gestanden habe. Die Folge sei, dass das Land nun von Russland angegriffen worden sei. Als Ursache für die Eskalation markiert sie eine „Kränkung” Russlands als historisches Versagen des Westens. Den Preis für die Sanktionen gegen das Land würden die Bürger auch hierzulande bezahlen. Deutschland sei längst ein sicherheitspolitisches Leichtgewicht, die Bundeswehr brauche eine strategische Wende. „Haltung und schöne Worte sind kein Ersatz für Realpolitik.” Um eine Energiekrise zu vermeiden, plädiert Weidel für den Wiedereinstieg Deutschlands in die Atomenergie.

Die Linke korrigiert sich

Linke-Fraktionschefin Amira Mohamed Ali spricht gleich zu Beginn von einem „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg” durch Wladimir Putin, der sofort beendet werden müsse. Mohamed Ali räumt offen ein, dass ihre Partei und Fraktion die Absicht der russischen Regierung „falsch eingeschätzt haben”. Angesichts der Fluchtbewegungen bräuchten Menschen aus dem Kriegsgebiet jetzt eine unbürokratische Aufnahme. Andere Auffassungen gebe es seitens der Linken bei der Bewertung der Lage. Waffenlieferungen und Hochrüstung werde die Linke nicht mittragen. Wettrüsten schaffe keine Sicherheit, das lehre die Geschichte. Sanktionen gegen Putin und seine Oligarchen stimmt Mohamed Ali zu, sie sieht aber auch Nachteile für die Zivilbevölkerung.

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