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Ukraine-Krieg: Reicht das Gas?

Politik und Wirtschaft bemühen sich um Entwarnung hinsichtlich der Energielieferungen. Im Herbst könnte die Versorgung aber teuer und kompliziert werden.
Im nächsten Herbst könnte die Versorgung mit Gas schwierig werden - und sehr teuer. (Foto: Martin Adams)
Im nächsten Herbst könnte die Versorgung mit Gas schwierig werden – und sehr teuer. (Foto: Martin Adams)

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine floss das Erdgas aus Osten am Donnerstag zunächst weiter. Durch die Pipelines Jamal und Nord Stream 1 kamen ähnliche Mengen in Deutschland an wie in den vergangenen Tagen. Das zeigten die Zahlen der Transportfirma Gascade in Kassel. „Aktuell liefern die russischen Vertragspartner die vertragsgemäß zugesagten Gasmengen”, erklärte auch eine Sprecherin des Baden-Württembergischen Energieversorgers EnBW am Donnerstagvormittag.

Etwa 55 Prozent des Erdgases, das Deutschland verbraucht, kommen derzeit aus Russland. 31 Prozent stammen aus Norwegen, 13 Prozent aus den Niederlanden, der Rest kommt aus anderen Quellen. EU-weit beläuft sich der russische Anteil auf etwa 40 Prozent. Eine Unterbrechung infolge des Krieges ist nicht unwahrscheinlich – beispielsweise, weil westliche Sanktionen gegen den russischen Finanzsektor die Bezahlung verhindern, oder weil Russland die Exporte nach Europa selbst einstellt.

„In diesem Winter wird jeder Gaskunde eine warme Wohnung haben”

Ist die hiesige Versorgung dann noch gesichert? „In diesem Winter wird jeder Gaskunde eine warme Wohnung haben”, erklärte Kerstin Andreae, Chefin des Energieverbandes BDEW, am Donnerstag. Auch der Verband der Gasindustrie sieht keine akute Knappheit. „Selbst bei einer völligen Unterbrechung der Gasversorgung durch Russland sind wir in diesem Winter auf der sicheren Seite”, hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in der vergangenen Woche gesagt.

Zwar füllte der russische Konzern Gazprom seine deutschen Speicher während des vergangenen Sommers weniger als üblich – zur Zeit beträgt der Stand nur noch 16 Prozent. Aber die Speicher der anderen privaten Unternehmen sind zu etwa 44 Prozent gefüllt. Die hiesigen Privathaushalte und Unternehmen werden damit wohl über die nächsten Monate kommen, vorausgesetzt die Temperaturen bleiben milde.

Außerdem hat sich die EU während der vergangenen Monate um kurzfristige Ersatzlieferungen bemüht. Dabei ging es unter anderem um zusätzliche Importe von verflüssigtem Erdgas (Liquid Natural Gas, LNG) mittels Tankschiffen. Energiekommissarin Kadri Simson verhandelte in Aserbaidschan und Katar, ihre Amtskollegin Margrethe Vestager mit Nigeria, von der Leyen selbst sprach mit den Regierungen in Marokko und den USA. Häufig konnte die EU Liefermengen übernehmen, die eigentlich für Japan oder Südkorea bestimmt waren.

Grundsätzliche Entwarnung für den Herbst

Wie aber sieht es in der nächsten Heizperiode ab kommenden Herbst aus? Selbst für diese Situation gibt Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) grundsätzliche Entwarnung: „Wir sind in der Lage, die Sicherheit auch ohne die Versorgung aus Russland zu gewährleisten.”

Einerseits könnten die Niederlande dann ihre Gasexporte erhöhen. Wobei die Ausbeutung des dortigen Gasfeldes bei Groningen eigentlich verringert werden soll, weil es zu Erschütterungen und Schäden an Gebäuden kommt. Auch Norwegen könnten vielleicht etwas mehr liefern. Zudem wurde 2020 eine neue Pipeline fertiggestellt, durch die Gas aus Aserbaidschan nach Europa gelangt.

Flüssiggas könnte russische Lieferungen kompensieren

Darüber hinaus haben die EU-Mitglieder ihre Hafenkapazitäten für den Import von Flüssiggas seit 2005 verdreifacht. „Rein theoretisch ließe sich ein großer Teil der russischen Lieferungen ersetzen”, sagte Georg Zachmann, Gasmarktexperte beim Brüsseler Thinktank Bruegel. „Unseren Berechnungen zufolge können die LNG-Terminals der EU pro Woche rund 3,5 Milliarden Kubikmeter anlanden.” Das würde vorerst die wöchentlich 1,7 bis 1,9 Milliarden Kubikmeter kompensieren, die Russland zuletzt geliefert habe. Ob das freilich auch praktisch klappt, wurde bisher nicht ausprobiert. Hinzu kommt, dass das Gasnetz in Europa noch Schwachstellen aufweist, beispielsweise zwischen Spanien und Frankreich.

Für den Fall schwerer Lieferunterbrechungen warnte Leonhard Birnbaum, Vorstandschef des Energieversorgers E.on: „Im nächsten Winter könnte die Energiewirtschaft wahrscheinlich eine Reihe von Industriekunden nicht mehr ohne Weiteres versorgen.” Zur Vorbereitung auf Extremsituationen verfügen die Verbände der Energiewirtschaft über einen „Leitfaden Krisenvorsorge Gas”. Darin sind stufenweise Abschaltungen für bestimmte Verbrauchergruppen geregelt. Krankenhäuser und Privathaushalte sollen am längsten beliefert werden. Kommt es ganz dicke, würde die Bundesnetzagentur in Bonn die Verteilung staatlich reglementieren.

Mehrkosten für Privathaushalte, falls Russland lange nicht liefert

Sicher ist, dass Krieg, Lieferengpässe und Ausfälle zu höheren Preisen führen – für Gas, aber auch für Öl und Strom. E.on wies am Donnerstag daraufhin, dass man jetzt einen nochmaligen Anstieg sehe – „ausgehend von bekanntlich bereits sehr hohem Niveau”. Um die bisherige Energiepreisinflation zu dämpfen, hat die Bundesregierung am Mittwoch ein Entlastungspaket beschlossen. So sollen ab Juli unter anderem die Umlage für erneuerbare Elektrizität im Rahmen der Stromrechnung wegfallen und Hartz-IV-Empfänger Zuschüsse erhalten.

Falls die russischen Lieferungen lange ausfallen, dürfte das nicht reichen, um die Mehrkosten der Privathaushalte auszugleichen. Dann müssen alle damit rechnen, ein paar hundert Euro pro Jahr mehr für Energie auszugeben. Und die Bundesregierung könnte sich von ihrem Plan verabschieden, die Schuldenbremse für den Bundeshaushalt ab 2023 wieder in Kraft zu setzen. Auch eine weitere unangenehme Debatte mag der Politik ins Haus stehen: Sollen nicht doch die Kohle- und Atomkraftwerke länger laufen? Vielleicht besser als im Kalten und Dunklen zu sitzen.

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