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Energieabhängigkeit von Russland: „Unabhängigkeit hat ihren Preis“

Historiker Jeronim Perovic über die Ursprünge der Energieabhängigkeit von Russland, die Rohstoffgeschichte von Lenin bis Putin und EU-Sanktionen
Weltmacht Russland: Wie der Kreml Energiepolitik macht und Europa in die Energieabhängigkeit von Russland geriet. (Foto: Felipe Simo)
Weltmacht Russland: Wie der Kreml Energiepolitik macht und Europa in die Energieabhängigkeit von Russland geriet. (Foto: Felipe Simo)

In der Ukraine tobt der Krieg, der Westen reagiert mit Sanktionen gegen Russland – auch auf Energie. Ein Kohleimport ist besiegelt, ein Ölembargo im Kern beschlossen, Gas soll spätestens 2027 gekappt werden. Die EU sucht den Weg aus der Energieabhängigkeit von Russland – denn das Land hat gegen Sanktionen vorgesorgt. Jeronim Perovic lehrt osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. In seinem jüngsten Buch „Rohstoffmacht Russland“ befasst er sich mit der langen Geschichte des Landes als Energielieferant. Ein Interview über die Anfänge der energiepolitischen Abhängigkeiten, die Bedeutung von Gazprom & Co. für Russlands Wirtschaft und die Folgen der EU-Sanktionen für das Modernisierungspotenzial des russischen Staates.

Herr Professor Perovic, bis zur russischen Invasion in der Ukraine kamen rund 55 Prozent der deutschen Gaslieferungen aus Russland, in Österreich lag der Anteil gar bei 80 Prozent. Die Energieabhängigkeit von Russland ist enorm. Wie konnte es überhaupt dazu kommen?

Schon das zaristische Russland hat ab dem späten 19. Jahrhundert Öl nach Europa exportiert und die Sowjetunion hat den Handel mit der kapitalistischen Außenwelt trotz ideologischen Gegensätzen und politischen Spannungen fortgesetzt. Die Sowjetunion galt also als verlässlicher Partner. Zu namhaften Lieferunterbrechungen kam es nicht und deshalb wurde die Erdgaspartnerschaft zwischen Westeuropa und der Sowjetunion, die 1968 mit ersten sowjetischen Gaslieferungen nach Österreich ihren Anfang nahm, in den darauffolgenden Jahren und Jahrzehnten fortgesetzt und immer weiter ausgebaut.

Die Europäer waren froh über das sowjetische Gas, weil sie darin eine willkommene Alternative zum Öl aus dem arabischen Raum sahen. Beschleunigend für den Ausbau der sowjetisch-westeuropäischen „Energiebrücke“ war dabei das Lieferembargo der arabischen Mitglieder der OPEC im Oktober 1973, was zu Versorgungsengpässen in Europa und einem massiven Preisanstieg führte. Von diesem ersten globalen „Ölschock“ profitierte letztlich das westeuropäisch-sowjetische Verhältnis.

Vom ersten Ölschock in die Energieabhängigkeit von Russland

Am Anfang des Energieschwenks nach Osten steht also der Versuch, sich von einzelnen Lieferanten unabhängiger zu machen. Ein Schlüsseljahr, Sie hatten es angesprochen, ist 1973. Damals strömte das erste Erdgas aus dem Osten auch in die Bundesrepublik Deutschland. Unter welchen Bedingungen kam dies zustande?

Moskau tat sich zunächst äußert schwer, mit Westdeutschland die Beziehungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu normalisieren. Nazideutschland war aufgrund seines Angriffskrieges gegen die Sowjetunion in schlechter Erinnerung. Auch die Deutschlandfrage war nicht gelöst, Bonn weigerte sich, die DDR diplomatisch anzuerkennen und die Ostgrenzen zu akzeptieren.

In dieser schwierigen politischen Situation half es, dass sich Ende der 1960er Jahren das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten USA und Sowjetunion merklich entspannte und sich gleichzeitig die westdeutsche Regierung unter ihrem Bundeskanzler Willy Brandt um die Normalisierung der Beziehung mit der Sowjetunion und den anderen Staaten des kommunistischen Ostens bemühte.

Zur Person

Jeronim Perovic, geboren 1971 in Winterthur, leitet das Center for East European Studies (CEES). In seinem neuen Buch „Rohstoffmacht Russland. Eine globale Energiegeschichte“ (Böhlau, 39 Euro) befasst er sich mit der Bedeutung von Gas und Öl für die Entwicklung Russlands seit der Oktoberrevolution 1917.

„Wandel durch Handel“ lautete die Devise. Was war das Motiv?

Zentral war dabei die Vorstellung, dass über den Ausbau der Handelsbeziehungen auch politische Annäherung erreicht werden konnte. Und der Bereich der Energie bot sich deshalb besonders gut an, weil die Sowjetunion zu dieser Zeit an Stahlröhren und Pipelinetechnik aus dem Westen interessiert war, um seine neu entdeckten Gasvorkommen in Sibirien erschließen zu können. Westeuropa dagegen strebte eine stärkere Diversifikation seiner Energieimporte an, um seine große Abhängigkeit vom Öl aus dem Persischen Golf zu reduzieren. Schon im Februar 1970 gelang deshalb der Abschluss eines ersten großen „Gas-gegen-Rohre“-Abkommens zwischen Westdeutschland und der Sowjetunion. Sowjetisches Gas erreichte die Bundesrepublik rund dreieinhalb Jahre später über eine Erweiterung des osteuropäischen Gaspipelinenetzes.

Energieabhängigkeit von Russland war in beiderseitigem Interesse

Von den USA wurde die Entwicklung argwöhnisch beobachtet. Die US-Regierung warnte damals schon vor einer zu großen Energieabhängigkeit von Russland. Die Erdölpipeline „Druschba“ – Freundschaft – wurde 1962 noch versucht mit NATO-Sanktionen zu stoppen. US-Präsident Ronald Reagan scheiterte in den Jahren 1981/82 mit einem ähnlichen Versuch, als er den Bau der ersten Gaspipeline zwischen Sibirien und Europa verhindern wollte. Warum konnte sich Westeuropa so sicher wähnen bezüglich der Zuverlässigkeit des östlichen Partners?

Vollständige Sicherheit gab es für die Westeuropäer nicht! Immerhin befand man sich im Kalten Krieg. Deshalb wurde jeweils auch sehr lange verhandelt. Über die Jahre entwickelte sich unter den Handelspartnern dasjenige Vertrauen, das nötig war, damit es zum Abschluss von solch großen Geschäften kommen konnte.

Wir dürfen nicht vergessen, dass es auch für die Sowjetunion keine vollständige Sicherheit gab. Auch in Moskau herrschte Misstrauen vor, denn mit dem Abschluss von langfristigen Lieferverträgen und dem Bau teurer Pipelines begab man sich in große Abhängigkeit vom kapitalistischen Westen. Deshalb war es im Sinne aller, dass die Abhängigkeiten gegenseitig waren. Je grösser die gegenseitigen Abhängigkeiten, desto höher die Kosten für beide Seiten, wenn die Verflechtungen aufgelöst werden.

Mit anderen Worten: Westeuropa wurde abhängig von sowjetischer Energie, die Sowjetunion abhängig von westlichen Devisen und Technikgütern. Bis vor dem Ukrainekrieg hat diese Logik weitgehend funktioniert und die Energiebeziehungen zwischen Russland und Europa stabil gehalten.

Russland drehte der Ukraine 1973 zugunsten des Westens das Gas ab

Jom-Kippur-Krieg, erste Gaslieferungen nach Deutschland – Sie beschreiben das Jahr 1973 als ein Schlüsseljahr. Um seine Lieferverträge mit dem Westen zu erfüllen, kappte Moskau im Winter 1973 auch die Gaslieferungen in die Ukraine. Spielte das in der westlichen Wahrnehmung damals eine Rolle?

Von den Energiekrisen und Lieferengpässen innerhalb der Sowjetunion wusste in Westeuropa kaum jemand. Das wurde erst nach Ende des Kalten Krieges durch neue Archivdokumente bekannt. Dass die sowjetische Führung aber bereit war, Gaslieferungen an eigene Sowjetrepubliken wie die Ukraine einzustellen, damit sie ihren Verpflichtungen gegenüber westeuropäischen Ländern nachkommen konnte, zeigt, wie bemüht Moskau war, als zuverlässiger Energielieferant zu erscheinen.

Warum war der Rohstoffexport so wichtig?

Man strebte den Ausbau des Handels an und sah darin eine Möglichkeit, dringend benötigte Devisen zu generieren, um westliche Technik einzukaufen. Wiederholt mussten Petrodollars aber auch für Weizeneinkäufe in den USA und Kanada eingesetzt werden, weil die sowjetische Agrarwirtschaft aufgrund von Misswirtschaft und Dürren nicht imstande war, Getreide in ausreichenden Mengen zu produzieren. Wir dürfen nicht vergessen: Die sowjetische Wirtschaft zeigte schon ab den späten 1960er-Jahren Krisenerscheinungen.

Warum Wladimir Putin die Privatisierung der Erdölindustrie zurückdrehte

Mit den Devisen aus den Energiegeschäften ließ sich das lange kompensieren. Ausführlich befassen Sie sich mit der Energiepolitik des russischen Staatschefs Wladimir Putin. Warum war es für ihn so wichtig, nach den wilden Jahren der Privatisierung in den 90er-Jahren nach 2000 die Kontrolle über die Energiekonzerne zurückzuerhalten?

Das größte Problem der 1990er-Jahre war, dass in Russland kaum jemand Steuern zahlte. Der Staat hatte kein Geld und konnte seinen Grundverpflichtungen nicht mehr nachkommen. Pensionen wurden nicht gezahlt, Infrastruktur verlotterte, das Budget für Militär und Verteidigung wurde gekürzt. In dieser Situation verhökerte der Staat sein Silberbesteck, darunter die großen Firmen der Ölindustrie, zu einem Spottpreis an Oligarchen, um rasch an Geld zu kommen.

Und Putin kehrte das um?

Putin hat die Privatisierung der Erdölindustrie rückgängig gemacht, um sich den Zugang zu diesem Schlüsselsektor und den Renditen zu sichern. Wir müssen wissen: In Russland sind es nur wenige Dutzend Unternehmen, fast ausschließlich aus dem Rohstoffsektor, die für den Großteil des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich sind. Rund ein Drittel des Staatshaushaltes stammt von Steuereinnahmen aus der Produktion und dem Export von Erdöl und Erdgas. Wer also diese wenigen großen Unternehmen kontrolliert, der kontrolliert im Grunde genommen die russische Wirtschaft.

Sie zitieren aus der Neujahrsansprache Putins aus dem Jahr 2000: „Bei uns haben der Staat, seine Institutionen und Strukturen, immer eine außerordentliche Rolle … gespielt. Die Russen sehen im starken Staat keine Anomalie…,[sondern] einen Garanten für Ordnung“. Welche Bedeutung kommt Energiekonzernen wie Gazprom und Rosneft in Putins Machtsystem zu?

Genauso wie in der Sowjetunion die Kommunistische Partei per Verfassung als die „lenkende Kraft“ der Gesellschaft galt, so ist im Putinschen Russland die Idee des „starken Staates“ zentral. Dies gilt auch für das Wirtschaftsleben: Der Staat braucht nicht gleich die gesamte Wirtschaft bis zur letzten Firma zu kontrollieren, wie dies in Sowjetzeiten der Fall war. Es genügt, einige Kernunternehmen zu kontrollieren.

Im Erdölsektor kontrolliert das staatliche Unternehmen Rosneft den größten Teil der Erdölproduktion, im Erdgassektor ist es Gazprom, das für etwa Zweidrittel der Erdgasproduktion verantwortlich ist. Zudem kontrolliert Gazprom den gesamten Export via seine Pipelines. Zwar gibt es auch in Russland zahlreiche private Erdöl- und Erdgasfirmen. Doch sie sind oft abhängig von den großen staatlichen Firmen. So ist es das staatliche Unternehmen Transneft, dem die Erdölpipelines gehören. Dieses Unternehmen entscheidet so auch über den Zugang privater Erdölfirmen in seinem Pipelinenetz.

Vom “roten Öl” zur Energieabhängigkeit von Russland

Die Einnahme aus Energiegeschäften hat eine lange Tradition in der sowjetisch-russischen Geschichte. Das reicht weit vor die Zeit zurück, in der die Energieabhängigkeit von Russland entstand. Schon Lenin schickte seine Emissäre 1922 zur Konferenz von Genua, bei der die revolutionäre Sowjetunion Geschäftskontakte zum Westen ausloten wollte, ausdrücklich als „Kaufleute“ nicht „als Kommunisten“. Warum waren die Einnahmen aus dem Geschäft mit dem „roten Öl“ so wichtig?

Schon Lenin wusste, dass das „schwarze Gold“ auf dem Weltmarkt stark nachgefragt war und sich damit Deviseneinnahmen erzielen ließen. Anfang der 1920er-Jahre war Sowjetrussland international isoliert. Die Bolschewiken boten ihr billiges Erdöl auf dem Weltmarkt an, um die internationale Wirtschaftsblockade zu durchbrechen. Gleichzeitig öffnete Lenin das Land für ausländische Investitionen, um die im Russischen Bürgerkrieg zerstörte Erdölindustrie und andere Industrien wieder aufzubauen. Das hat funktioniert.

Mit dem Verkauf von Erdöl erzielte die Sowjetunion in der frühen Sowjetzeit zwar noch nicht die großen Milliardengewinne der späteren Jahre. Doch Erdöl war ein sicherer Wert, mit dem sich immer handeln ließ.

In den dreißiger Jahren versiegten die Einnahmen aus dem Ölgeschäft. Warum?

Weil der sich rasch industrialisierende Sowjetstaat immer mehr Erdöl für den Eigenverbrauch nutzte, die Produktion aber stagnierte, blieb immer weniger für den Export übrig. Auch sank Anfang der 1930er Jahre die globale Nachfrage im Zuge der Weltwirtschaftskrise und die Preise brachen ein. Das Problem war, dass es die sowjetische Führung verpasst hatte, dem Erdölsektor die nötigen Finanzmittel zuzuführen, um die Produktion zu steigern und neue Vorkommen zu erschließen. Bis zum Zweiten Weltkrieg konzentrierte sich fast die gesamte Förderung im sowjetischen Kaukasus, bei Baku und Grosny.

Erst nach dem Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion und dem Versuch der Deutschen, in den Besitz des kaukasischen Öls zu gelangen, entschied Stalin, neue Vorkommen im Wolga-Ural-Gebiet und damit weit entfernt von der Front erschließen zu lassen. Dieser Entscheid sollte später, in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre, den Grundstein dafür legen, dass die Sowjetunion wieder in der Lage war, Öl in immer größeren Mengen zu exportieren.

Öl als Mittel der Politik: Tauschhandel in Osteuropa

Nach 1945 diente das Öl auch zur Integration des Ostblock in die sowjetische Einflusssphäre beziehungsweise den Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), wie das Gegenstück zur EU offiziell hieß. Wie funktionierte dieses Tauschhandelssystem?

Zunächst trat die Sowjetunion in den von der Roten Armee besetzten Gebieten in Osteuropa wie eine Besatzerin auf. So ließ Stalin nach dem Zweiten Weltkrieg große Teile der Erdölproduktion Rumäniens, Ungarns und Österreichs faktisch beschlagnahmen, um die eigene kriegsgeschädigte Wirtschaft rasch wiederherzustellen.

Nach Stalins Tod änderte Moskau seine Politik. Insbesondere der große Volksaufstand in Ungarn 1956 signalisierte der sowjetischen Führung, dass es nicht klug war, als Ausbeuterin angesehen zu werden. Die Sowjetunion musste etwas tun, um die schwierige soziale und wirtschaftliche Lage in den Staaten Osteuropas zu entschärfen. Die Lieferungen von verbilligten Rohstoffen, darunter Öl und später Gas, war ein wichtiges Mittel dazu.

Weil die osteuropäischen Verbündeten keine Devisen hatten, bezahlten sie für die sowjetischen Rohstoffe mit Gütern, meist Industriewaren, die allerdings oft von geringer Qualität waren. Auch deshalb forcierte die Sowjetunion ab den 1960er und dann vor allem in den 1970er den Export in die westliche „Dollarzone“, damit sie an Devisen kamen, um hochwertige westliche Waren und Technologie einzukaufen.

Energieabhängigkeit von Russland: “Politik und Handel können nicht getrennt behandelt werden”

Der frühere sowjetische Staats- und Parteichef Leonid Breschnew (1964-1982) formulierte einst: „Gas dorthin – harte Währung hierhin“. Eine einfache Formel, die in Westeuropa funktionierte, in den USA auf mehr Skepsis stieß. Früh wurde dort vor einer Energieabhängigkeit von Russland gewarnt. „Politik und Handel können im Umgang mit Kommunisten nicht getrennt behandelt werden“, heißt es in einem US-Dokument. Gelang das in der Phase des Kalten Kriegs?

Die beiden Supermächten USA und UdSSR trieben während des ganzen Kalten Krieges kaum Handel. Es gab Anfang der 1970er-Jahre unter US-Präsident Richard Nixon Bestrebungen, den Handel zu vertiefen und die Wirtschaftsbeziehungen, gerade auch im Bereich der Energie, auszubauen. Amerikanische Firmen hätten in Westsibirien bei der Erschließung von Erdgas helfen sollen. Dieses Erdgas hätte anschließend verflüssigt per Tanker an die amerikanische Ostküste verschifft werden sollen. Dazu sollte es nie kommen. Einerseits waren die USA weniger auf Energieimporte angewiesen als die Europäer, und das meiste Öl, das sie importierten, stammte aus Venezuela und vom Persischen Golf.

Auch gab es im US-Kongress starken Widerstand gegen den Abschluss großer Geschäfte mit der Sowjetunion. Das Sibirien-Projekt sollte deshalb nie zustande kommen. Breschnew war frustriert, denn er hätte sich mehr Handel unter den Supermächten gewünscht. Darin sah er auch einen Beitrag zum „Weltfrieden“. Auch weil die USA als Handelspartner ausfielen, favorisierte Moskau schließlich die Westeuropäer und in erster Linie Westdeutschland, das bald zum wichtigsten Abnehmer von Öl und Gas aus der Sowjetunion werden sollte.

Wie Russland abhängig von Energieexporten in den Westen wurde

Interessanterweise ist es etwas anders gekommen. „Die Sowjetunion war in Abhängigkeit von Öl und Gas geraten“, schreiben Sie, während wir heute über die westeuropäische Energieabhängigkeit von Russland diskutieren. Inwiefern beschleunigte der Fall der Energiepreise auch das Ende Gorbatschows und der Sowjetunion?

Wichtig ist zu verstehen, dass die Renditen aus dem Erdölexportgeschäft bis Anfang der 1970er-Jahre bescheiden waren. 1970 erzielte die Sowjetunion erst rund eine Milliarde US-Dollar mit dem Verkauf von Erdöl im Westen. Erst mit steigenden Weltmarktpreisen und dem gleichzeitigen Anstieg der sowjetischen Exporte nahmen die Einnahmen dramatisch zu und geriet die Sowjetunion in immer größere Abhängigkeit vom Rohstoffexport.

Anfang der 1980er-Jahre stammten rund 80 Prozent der sowjetischen Deviseneinnahmen im Umfang von jährlich rund 15 Milliarden US-Dollar aus dem Export von Öl und Gas. Anstatt das marode Plansystem zu reformieren, war es also einfacher, die Defizite des eigenen Systems mit Einnahmen aus dem Rohstoffgeschäft auszugleichen.

Das funktionierte jedoch spätestens dann nicht mehr, als die Erdölpreise Mitte der 1980er-Jahre massiv einbrachen. Nun blieb dem neuen Generalsekretär Michail Gorbatschow nichts anderes übrig, als unliebsame Reformen einzuleiten. Nicht die tiefen Erdölpreise an sich, sondern die gescheiterten Reformen waren es, welche den Zerfall des Gesamtsystems beschleunigten.

Öl als Treiber der Globalisierung: Geschäfte Widerwillen?

Parallel zu Ihrem Buch hat der Historiker Philipp Ther mit „Die Stürme der Transformation“ eine Wirtschaftsgeschichte zweier Werften in Osteuropa vorgelegt. Auch er beschreibt, dass die Staaten Osteuropas vor 1989 viel stärker in die Globalisierung eingebunden waren als vermutet. Sie kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: Müssen wir die Wirtschaftsgeschichte umschreiben?

Wir müssen vor allem mehr über Wirtschaft und die globalen Zusammenhänge erfahren, um zu verstehen, welche Bedeutung sie hatten. Bisher stand die Politikgeschichte im Vordergrund. Nun gilt es, andere Bereiche unter die Lupe zu nehmen.

Lesen Sie auch: Interview mit dem Wirtschaftsweisen Achim Truger: “Energie-Embargo verursacht starke wirtschaftliche Schäden” (4.4.2022)

Was können wir daraus lernen?

Meine Überzeugung ist, dass wirtschaftliche Fragen und die Bewegungen im Weltmarkt eine viel größere Bedeutung hatten als von der Geschichtswissenschaft angenommen. Dabei geht es nicht nur um Zahlen und Statistik, sondern auch um Wahrnehmungen. In Moskau hat man genau studiert, was in der kapitalistischen Welt vor sich ging und versucht, eigene Antworten auf diese Entwicklungen zu finden.

Noch Chruschtschow war sich sicher, den Kapitalismus „einholen und überholen“ zu können. Auch wollte er verhindern, dass die Sowjetunion zum reinen Rohstofflieferanten der Kapitalisten wurde. Vielmehr hätte die Sowjetunion selbst zur Exportmacht von qualitativ hochstehenden Industrie- und Fertigwaren werden sollen. Das ist aber nie gelungen und unter Breschnew war denn auch Ernüchterung eingekehrt. Mit dem Rohstoffexport ließ sich der Kapitalismus nicht überholen, aber immerhin konnte man Devisen erwerben, um kapitalistische Technik und Waren zu kaufen.

Was das Embargo der EU für Russlands Energiegeschäfte bedeutet

Jetzt lautet der Westen die Abkehr von der Energieabhängigkeit von Russland ein. Die EU hat Sanktionen erlassen. Ein Import von Kohle aus Russland ist besiegelt, ein Ölembargo wurde im Grundsatz beschlossen, das Programm RepowerEU kappt russische Gasimporte von 2027 an und setzt auf erneuerbare Energien. Was bedeutet die grüne Transformation für den russischen Staat und sein Modernisierungspotenzial, auch für eine mögliche Zeit nach Putin?

Wenn wir uns hundert Jahre Energiegeschichte anschauen, lässt sich leicht erkennen, dass ein so strategisch wichtiges Gut wie Erdöl immer den Weg zum Markt gefunden hat, solange eine Nachfrage bestand. Dasselbe gilt für Erdgas und andere wichtige Rohstoffe.

Embargos und Lieferunterbrechungen können den Markt kurzzeitig erschüttern, doch Russland wird letztlich neue Abnehmer finden, solange es eine globale Nachfrage nach Öl und Gas gibt. Der einzige Weg wäre, gänzlich aus der fossilen Abhängigkeit herauszukommen. Doch das hat seinen Preis und wir werden sehen, ob wir als Gesellschaft bereit sind, diesen zu bezahlen.

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