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Abschied vom Bundestag: Vier Aussteiger ziehen Bilanz

Im September wird ein neuer Bundestag gewählt. Vier scheidende Abgeordnete berichten über ihre Gründe für den Abschied von der Politik und versuchen ein Fazit
Blick in den Plenarsaal des Bundestags: Für manche heißt es Abschied nehmen. (Foto: Massimo Virgilio)
Blick in den Plenarsaal des Bundestags: Für manche heißt es Abschied nehmen. (Foto: Massimo Virgilio)

Der Bundestag wird neu gewählt. Schon jetzt ist klar: Manche Abgeordnete werden künftig nicht mehr im Parlament sitzen. Als prominentestes Mitglied stellt sich am 26. September Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht mehr zur Wahl. Auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) verlässt die Politik. Ebenso steht bei Sylvia Kotting-Uhl (Grüne), der Vorsitzenden des Umweltausschusses, und Verkehrspolitikerin Kirsten Lühmann (SPD) der Abschied vom Bundestag an. Auffällig: Mit der Hamburger Bildungspolitikerin Katja Suding (FDP) und dem Berliner Außenpolitiker Stefan Liebich (Linke) verlassen auch Abgeordnete unter 50 das Parlament. Es gibt also ein Leben nach dem Bundestag.

„Politik als Beruf“ heißt ein Essay des Soziologen Max Weber aus dem Jahr 1919. „Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder man lebt ,für‘ die Politik oder aber ,von‘ der Politik“, schreibt Weber. Und fährt fort: Wer für die Politik lebt, „genießt entweder den Besitz der Macht“ oder „er speist sein inneres Gleichgewicht und Selbstgefühl aus dem Bewusstsein, durch Dienst an einer Sache seinem Leben einen Sinn zu verleihen“. Politik als Beruf oder als Berufung – vier Aussteiger berichten zum Abschied vom Bundestag über Erfolge, Misserfolge und ihr Leben im Parlament.

Katja Suding: Auch das Kleine bewegt

Die FDP-Abgeordnete Katja Suding, 45, bewirbt sich nach vier Jahren im Bundestag nicht mehr für ein Mandat. „Meine neue Aufgabe wird mich finden“, sagt Suding über ihre Zukunft. Das klingt nicht nur sehr gelassen, sondern auch nach viel liberalem Selbstvertrauen. „Ich bin in der glücklichen Lage, noch einmal etwas ganz Anderes zu machen“, sagt Suding, ohne genau zu wissen, was kommt. Ein Jahrzehnt bestimmte die Politik ihr Leben – nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich. „Ich habe in meinem Leben immer viel gearbeitet, aber nie mit so hohem Einsatz wie in meiner Zeit in der aktiven Politik“, sagt Suding.

Vor ihrem Wechsel in die Politik war Suding als Marketing-Expertin beschäftigt. Dem damaligen FDP-Chef Guido Westerwelle gelingt dann ein kleiner Coup. Er bewegt Suding,
2011 bei der Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft als Spitzenkandidatin für die Liberalen anzutreten. Die Operation Wiedereinzug in Hamburg gelingt. So wie auch 2017 die Rückkehr der FDP in den Bundestag. Suding wechselt nach Berlin. „Die Schlagzahl in Berlin ist schon höher“, sagt Suding über den Unterschied zwischen Landes- und Bundespolitik.

Was bleibt nach einem Jahrzehnt Politik in der ersten Reihe? „Freundschaften – auch über Parteigrenzen hinweg“, sagt Suding zum Abschied vom Bundestag. Und politische Erfolge? Die Liberale muss nicht lange überlegen. „Die Schuldenbremse, die wir 2012 gemeinsam mit den Grünen in der Hamburgischen Landesverfassung verankert haben.“

Im Bundestag engagiert sich Suding in der Bildungspolitik. Die Verfassungsänderung für den Digitalpakt Schule, mit dem der Bund auch in die digitale Ausstattung der Schulen investieren kann, bezeichnet sie als Meilenstein dieser Legislaturperiode. „Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig Digitalisierung ist – gerade im Bereich der Schule“, sagt Suding.

Wolfgang Schäuble – Der Endlos-Politiker

Der neue Bundestag wird am 26. September gewählt. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, 78, kandidiert erneut im Wahlkreis Offenburg. Der CDU-Politiker gehört dem Bundestag seit 1972 – also seit 50 Jahren – an und könnte im kommenden Jahr sein goldenes Parlamentsjubiläum begehen. Schon jetzt ist er der dienstälteste Abgordnete in der Geschichte deutscher Parlamente. Schäuble war überdies unter anderem Chef des Bundeskanzleramts, Parteivorsitzender, Fraktionsvorsitzender, Innenminister und Finanzminister. Der scharfzüngige Redner war maßgeblich an der Aushandlung des Einigungsvertrages der beiden deutschen Staaten beteiligt. Ein Tiefpunkt seiner politischen Karriere war seine Rolle in der CDU-Spendenaffäre.

Oft sind es aber auch Themen abseits des großen Medieninteresses, die Politiker bewegen. So nennt Katja Suding als bleibenden Erfolg ihrer Zeit im Bundestag die Änderung des Kinder- und Jugendstärkegesetzes. Hinter dem sperrigen Namen verbirgt sich dies: Jugendliche, die in Heimen oder Pflegefamilien aufwachsen, mussten bisher drei Viertel ihrer Einkünfte an das Jugendamt abgeben. „Das ist eine ungerechte Regelung allein aufgrund der Herkunft, die jede Art von Leistung bremst“, sagt Suding. Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode beschloss der Bundestag eine Änderung – auch auf Betreiben Sudings. Künftig verbleiben drei Viertel des Geldes bei den Jugendlichen, wenn sie neben der Schule jobben oder eine Ausbildung beginnen. „Das ist immerhin ein kleiner Fortschritt“, sagt die FDP-Politikerin.

Es sind auch kleine Dinge, die Politik bewegen. Und so sagt Suding auf die große Frage des Soziologen Max Weber – Politik, Beruf oder Berufung? „Beides. Politik erfordert erheblich mehr als ein normaler Beruf – vom Zeitaufwand bis hin zur Leidenschaft. Aber er ist natürlich auch Handwerk.“ Ihr Fazit zum Abschied vom Bundestag: „Ich rate jedem dringend, Politik als Aufgabe auf Zeit zu begreifen und unabhängig zu bleiben.“

Kirsten Lühmann: „Politik braucht einen langen Atem“

Die SPD-Abgeordnete Kirsten Lühmann, 57, zieht 2009 erstmals in den Bundestag ein. In der Kommunalpolitik und in der Gewerkschaft ist die Streifenpolizistin da schon zwei Jahrzehnte aktiv. „1989 kam meine erste Tochter zur Welt. Da habe ich gemerkt, du musst dich einbringen, wenn sich mit Blick auf Beruf und Erwerbstätigkeit von Eltern etwas ändern soll.“

Also engagiert sie sich zunächst in der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG) und später in der SPD. Im Landkreis Celle folgt Lühmann 2009 als Bundestagsabgeordnete auf einen prominenten Sozialdemokraten: den ehemaligen Verteidigungsminister Peter Struck. Lühman engagiert sich in der Verkehrspolitik und steigt im Bundestag auf zur verkehrspolitischen Sprecherin ihrer Fraktion.

Ihre größten Erfolge in der Politik? Lühmann nennt das Hafen-Hinterland-Projekt, ein Konzept, das den Güterverkehr an die Häfen in Hamburg und Bremerhaven anbinden soll. Die Bahn setzt auf Neubaustrecken und erntet viel Widerstand. Lühmann setzt auf Dialog mit den Anwohnern und kämpft für eine Lösung, die weitgehend bestehende Bahnlinien nutzt. Ein Milliarden-Projekt. „Das wird mich auch noch nach meinem Ausscheiden aus der Politik beschäftigen“, sagt Lühmann, die auch im Aufsichtsrat der Bahn sitzt.

Nächste Punkte auf ihrer parlamentarischen Tagesordnung: das Eisenbahnregulierungsgesetz und sogenannte Alkolocks, automatische Wegfahrsperren in Autos, die Alkoholsünder durch eine Kontrolle der Atemluft am Starten der Wagen hindern und so den Führerschein retten sollen.

„Mit dem Führerschein geht oft auch der Arbeitsplatz verloren und vieles was dranhängt wie die Familie“, erklärt Lühmann. „Den Führerschein gibt es dann nach ein paar Monaten zurück. Aber alles andere ist verloren“, so Lühmann. Deshalb setzt sie auf Alkohol-Interlocks und entsprechende Kurse für die Alkoholsünder.

„Das sind schon eher Feinschmecker-Themen“, sagt Lühmann leicht selbstkritisch. Aber in der parlamentarischen Arbeit geht es eben nicht allein um große Linien, sondern auch um Lösungen für die feinen Konturen des Alltags. „Wir machen ganz, ganz viel Kärrnerarbeit.“ Und die benötigt mitunter Zeit. Seit Anfang des Jahrhunderts etwa wird über die Hinterland-Anbindung der Häfen Hamburg und Bremerhaven gerungen. Lühmanns Fazit ihrer Zeit im Bundestag: „Politik braucht einen langen Atem.“

Nach zwölf Jahren scheidet die SPD-Politikerin im Herbst aus dem Bundestag aus. Sie wolle andere „ranlassen, mit neuen Themen“, sagt Lühmann. Sie selbst hat zuletzt nicht nur die zeitliche Belastung der politischen Arbeit gespürt, mit steten Sechs-Tage-Wochen. Noch etwas macht Lühmann zu schaffen. Von ihrer Arbeit war die ehemalige Streifenpolizistin vieles an Pöbeleien gewohnt. Aber zuletzt stieg die Aggressivität in der Gesellschaft bedenklich. „Die persönlichen Anfeindungen gegenüber Politikern und Politikerinnen nehmen zu“, sagt Lühmann. So gab es 2020 rund dreitausend Übergriffe auf Mandatsträger vom Bundestag bis zum Gemeinderat, mehr als doppelt so viele wie ein Jahr zuvor.

„Zuhören können“ nennt Lühmann als wichtige Eigenschaft eines Politikers. Sie verlässt den Bundestag ohne große Wehmut. Künftig will sie sich wieder stärker in der Gewerkschaft engagieren. Politik als Beruf oder als Berufung? Lühmanns Antwort kommt schnell: „Eindeutig Berufung. Wer das anders sieht, kann das Abgeordnetenmandat nicht lange ausüben.“ Sie tritt für eine zeitliche Begrenzung der Arbeit als Volksvertreter ein: „Zwanzig Jahre sind genug. In der Zeit lässt sich schon viel schaffen.“

Stefan Liebich: „Ein Beruf. Aber das macht die Berufung nicht kleiner“

Der Linken-Abgeordnete Stefan Liebich, 48, verlässt den Bundestag nach drei Legislaturperioden. „Ich möchte einfach gerne nochmal etwas anderes machen“, erklärt Liebich und sagt über seine Zukunftspläne zurückhaltend: „Ich habe mich immer viel mit Außenpolitik befasst, nun würde ich gerne mal im Ausland arbeiten.“

Liebich ist in Greifswald und Ostberlin aufgewachsen, „in einem Elternhaus, das die DDR positiv gesehen hat“, wie er sagt. An seinem 18. Geburtstag, 1990, ist er in die PDS eingetreten. „Auch aus Protest darüber, dass sich die Vereinigung damals als Übernahme vollzogen hat.“ Heute, so Liebich, sind es vor allem „Gerechtigkeitsfragen“, die ihn als Linken-Politiker bewegen, „von der Wohnungs- und Mietenpolitik bis hin zu sozialen Fragen wie dem Mindestlohn.“

Liebich verschrieb sich im Bundestag vor allem der Außenpolitik. Als erster Politiker der Linkspartei wurde er in den Kreis der Atlantik-Brücke aufgenommen, eine erlesene Runde aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, die sich mit Fragen der Beziehungen zu den USA befasst. Protest aus der eigenen Partei folgte.

Was hat er bewegt in der Politik? Da nennt der Außenpolitiker zunächst die Berliner Landespolitik. 2001 wurde er Landesvorsitzender der Linken in Berlin, gleich darauf wurde in Berlin der erste rot-rote Senat gebildet. Mit Gregor Gysi als Wirtschaftssenator. „Das mit auf den Weg zu bringen und zu zeigen, dass der Senat keine rein Westberliner Veranstaltung ist, war schon eine große Leistung“, sagt Liebich. Nicht nur für den Erfahrungshorizont im Westen der Stadt. Im Osten Berlins fühlten sich viele endlich angekommen.

Und im Bundestag? Liebich nennt das Aus für eine deutsche Ausbildungsmission für Sicherheitskräfte in Kamerun, trotz schwerer Menschenrechtsverletzungen des Regimes. Auch in die Auseinandersetzung mit Namibia um den Völkermord deutscher Kolonialtruppen an den Herero schaltete sich Liebich ein. Vor wenigen Wochen erklärte sich die Bundesrepublik endlich zu einer offiziellen Entschuldigung für den Völkermord aus der deutschen Kolonialzeit bereit. „Diese Debatte durch stete Kritik mitvorangetrieben zu haben, ist ein Erfolg“, so Liebich.

Liebich ist 1972 geboren. Da zog Wolfgang Schäuble zum ersten Mal in den Bundestag ein. Schäuble, 78, kandidiert im September erneut. Liebich geht mit 48. Auch andere wie Katja Suding und der frühere CDU-Generalsekretär Peter Tauber verlassen das Parlament in den Vierzigern. Ein Trend? „Ich glaube nicht“, sagt Liebich. „Die Gründe für den Abschied aus der Politik sind vielfältig und individuell.“

Politik als Beruf oder als Berufung? Liebich holt ein wenig aus. Die meisten Abgeordneten gehörten dem Parlament nur ein, zwei Legislaturperioden an. Dann gebe es jene, „die das tatsächlich als Beruf machen“. „Erfahrungsträger“ nennt sie Liebich, weil er weiß, dass ein Parlament ohne sie nicht auskommt. Und er selbst? „Ich war 22 Jahre in der Politik, dann ist das schon Beruf. Was die Berufung aber nicht kleiner macht“, sagt Liebich. Seine Bilanz zum Abschied vom Bundestag: „Es war nie mein Plan, aber ich habe es nicht bereut.“

Sylvia Kotting-Uhl: Runter von den Barrikaden

Die Grünen-Abgeordnete Sylvia Kotting-Uhl, 68, verlässt den Bundestag nach vier Legislaturperioden. „Ich werde es genießen, wieder Herrin meines Terminkalenders zu sein“, sagt Kotting-Uhl und bekennt: „Tage mit zwölf oder vierzehn Stunden im Terminkalender möchte ich nicht mehr.“ Kotting-Uhl stieß 1986 zu den Grünen. Zuvor war sie in Baden aufs Land gezogen. Selbstversorgung – vom Wein über Streuobstwiesen bis zum Gemüse vom eigenen Feld. Dann kamen das Waldsterben, das Ozon-Loch, der Chemie-Unfall bei Sandoz in Basel und die Atomkatastrophe von Tschernobyl. „Danach hab‘ ich gesagt, das geht nicht: Sich eine grüne Insel zu bauen und drumherum geht die Welt zugrunde.“

Der Anti-Atompolitik blieb Kotting-Uhl in besonderer Weise verbunden. Im Bundestag bringt sie die Lex Asse auf den Weg, eine Regelung zur Räumung des maroden Atomlagers nahe Wolfenbüttel. „Gegen den Widerstand des damaligen Umweltministers Sigmar Gabriel“, wie Kotting-Uhl betont. Ihre Methode: Gleichgesinnte finden, auch in anderen Parteien. „Ich habe damals die Zuständigen aus den vier anderen Bundestagsfraktionen angesprochen, ob wir uns nicht mal zusammensetzen könnten. Interessanterweise waren das alles Frauen.“

Auch die Suche nach einem Atomendlager schiebt Kotting-Uhl neu an. Den Standort Gorleben versucht die Politik gegen den Widerstand der Bevölkerung durchzudrücken. Das neue Endlagergesetz geht einen anderen Weg. Bundesweite Suche nach vorher definierten Kriterien und unter Beteiligung der Menschen. „Die Bürgerinnen und Bürger werden im Rahmen der Endlagersuche künftig gehört. Im Bereich Partizipation geht das Standortauswahlgesetz weit über das hinaus, was wir bisher kennen“, sagt Kotting-Uhl.

Zwei Jahre lang, von 2003 bis 2005, war sie Landesvorsitzende der Grünen in Baden-Württemberg. Dort ist seit zehn Jahren ein Grüner Regierungschef. Im Bund stehen die Grünen im Herbst möglicherweise vor einem historischen Wahlerfolg. Beschleicht einen nicht Wehmut, in solch einem Moment zu gehen. „Überhaupt nicht“, sagt Kotting-Uhl. Sie ist mit dem Aufstieg ihrer Partei zufrieden. „Es ist schön, sich das anzuschauen und zu wissen: Ein bisschen hat man auch zu diesem Gesamtwerk beigetragen.“

Politik als Beruf oder Berufung – wie fällt bei ihr nach mehr als drei Jahrzehnten das Fazit aus? „Das lässt sich nur schwer trennen. Es war sicherlich Berufung. Ich bin nicht in die Politik, um ein Mandat zu erringen“, sagt Kotting-Uhl zum Abschied vom Bundestag.

An Max Webers berühmten Essay hat sie aber etwas anderes fasziniert. Die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Zählt in der Politik immer nur das Umsetzen der reinen Lehre oder steht am Ende ein pragmatischer Weg für viele? „Ich war immer eine streitbare Abgeordnete“, sagt die Grünen-Politikerin. „Aber ich habe bei den Gesetzen, die ich vorangetrieben habe, immer den Konsens gesucht. Bei der Lex Asse war klar: Ich kämpfe jetzt nicht auf den Barrikaden mit einem Antrag, der in den Schubladen verschwindet.“

Lesen Sie auch: Wie der Wahlkampf im Netz Politiker herausfordert.

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