Seit Jahren beschäftigt die Griechenland-Krise die Bundesregierung. Sie besteht auf harten Reformen im Gegenzug für die Kredite der internationalen Geldgeber. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) verteidigt diesen Kurs im Wahlkampf: „Zu viel Nachsichtigkeit hilft auch nicht, dass es in Griechenland besser wird. Schauen Sie sich mal Irland an, schauen Sie sich mal Spanien an, wie sich da die Dinge entwickelt haben durch harte Reformen. Das hat’s zum Erfolg geführt. Und deshalb waren wir bei Griechenland auch so hart.“ Stimmt das? Der Journalistico-Faktencheck.
Was sagt die Bundeskanzlerin?
Das ist einerseits nicht leicht zu beantworten, da ihre Aussage undeutlich ist – was sind „Reformen“, was „harte Reformen“ und wie definiert sich „Erfolg“? Die Sätze der Kanzlerin sind weniger eine exakte Aussage, sondern transportieren Botschaften, die in der Euro-Krisen-Debatte gängig sind. Erstens: Reformen sind etwas Gutes. Noch besser sind harte Reformen, die oft auch „tiefgreifend“ oder „schmerzhaft“ genannt werden. Die entsprechende Metapher ist die Medizin, die bitter sein muss, um zu wirken. Zweitens: “Hart“, „bitter“, „schmerzhaft“ bedeuten, dass die Reformen gegen Widerstände durchgesetzt werden müssen – Widerstand der Regierung oder der Bevölkerung. Es ist eine elterliche Haltung: Es ist zu deinem eigenen Besten. Drittens: “Reformen führen zum Erfolg“ bedeutet: Ein Land hat seine ökonomische Rettung selbst in der Hand, ist daher auch verantwortlich für seine Malaise, die durch verschleppte Reformen verursacht worden ist. Daraus folgt: Hätte Griechenland sich wie Irland, das als Muster-Reform-Land gilt, oder Spanien reformiert, stünde es heute besser da.
Was ist dran an den Sätzen der Bundeskanzlerin?
Griechenland hat seine Gesellschaft und Wirtschaft umfassend reformiert. Das belegen die regelmäßigen Kontrollen seiner Gläubiger. Laut dem Reform-Responsiveness-Indikator der Industrieländerorganisation OECD hat kein Industrieland zwischen 2011 und 2014 so viele Reformen durchgeführt wie der südeuropäische Krisenstaat. Umstritten bleibt dabei allerdings, ob die Regierung die Reformen zwar beschlossen, ihre praktische Umsetzung vielfach jedoch behindert hat.
Kann Griechenland mit Irland verglichen werden?
Nein, der Vergleich ist unstatthaft. Denn bei beiden Ländern handelt es sich um gänzlich unterschiedliche Wirtschaften. Entsprechend unterschiedlich war der Erfolg der Reformen. Kernziel der Reformen, insbesondere auf den Arbeits- und Produktmärkten, in beiden Ländern war es, die Löhne und Preise zu senken und dadurch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu steigern.
Welche Ergebnisse zeitigten die Reformen in Irland?
In Irland führte dies zu einem drastisch steigenden Export, der ein entsprechendes Wirtschaftswachstum nach sich zog. Dass dies möglich war, lag an der Struktur der irischen Wirtschaft, die 2010 eine Exportquote von über 103 Prozent seiner Wirtschaftsleistung aufwies. Die Kompression der Binnennachfrage durch Lohnsenkungen, Entlassungen und staatlichen Sparmaßnahmen wurde daher mehr als kompensiert durch die Ausnutzung der ausländischen Nachfrage. Hilfreich war hier, dass mit Großbritannien und den USA zwei Länder die Hauptmärkte Irlands sind, die in der Krise weniger gespart hatten und deren Konjunktur sich daher schnell von der Krise erholte. Daher konnte Irland viel stärker von der Schwäche des Euro-Wechselkurses gegenüber Dollar und Pfund profitieren. Und schließlich fungiert Irland traditionell als Drehscheibe internationaler Konzerne, insbesondere aus den USA, die die extrem niedrigen irischen Unternehmenssteuern nutzen. Seine Stellung als globale Steueroase ermöglichte Irland daher einen Exportboom. „Für Griechenland ist es unmöglich, dieses Modell zu kopieren.“
Warum funktioniert in Griechenland der irische Weg nicht?
Griechenlands Wirtschaft basiert wesentlich stärker auf der Binnennachfrage. Die Exportquote des Landes lag 2010 bei nur 22 Prozent. Die Konsumausgaben dagegen betrugen 92 (Irland: 66) Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die „interne Abwertung“ über Lohnsenkung und staatliche Sparprogramme ließ den privaten und den staatlichen Konsum einbrechen und belastete daher viel stärker die Konjunktur. Dazu kommt: Trotz deutlich sinkender relativer Lohnstückkosten (2009-2012: Irland -19 Prozent, Griechenland -20 Prozent) wuchs auch der geringe griechische Export nur schwach. Eine Ursache dafür war, dass trotz sinkender Lohnkosten die Preise in Griechenland kaum zurückgingen. Ursächlich dafür waren unter anderem die starken Steuererhöhungen, die die Gläubiger zwecks Senkung des Haushaltsdefizits verlangten.
Welches Land hat denn mehr gespart?
Das griechische Sparprogramm war bei weitem härter als das irische. Ohne zyklische und Einmaleffekte sank das griechische Primärdefizit zwischen 2010 und 2012 um 5,2 Prozent pro Jahr, das irische um 1,7 Prozent. Aufgrund der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur drückte jedes Prozent Einsparung die griechische Wirtschaftsleistung wesentlich stärker als die irische. Der Rückgang des BIP wiederum ließ die Schuldenquote steigen, was weitere Sparmaßnahmen folgen ließ.
Insgesamt betrug die fiskalische Anpassung (Steuererhöhungen und Ausgabensenkungen) in Irland von 2008 bis 2014 etwa 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In Griechenland waren es von 2010 bis 2014 über 30 Prozent. Zudem hatte Irland für diese Anpassung sieben Jahre Zeit, Griechenland nur fünf. Im Zeitraum 2015 bis 2017 wurden in Griechenland weitere fiskalische Maßnahmen von 5,4 Prozent des BIP umgesetzt.
Fazit des Institute for Internationale Finance: “Die wesentlich härtere fiskalische Anpassung (in Griechenland) hatte einen viel negativeren Einfluss auf das BIP (…) Eine gemäßigtere fiskalische Konsolidierung hat Irland geholfen, das Wachstum anzuschieben (…) Die irischen Sparziele waren erreichbar; die Griechenlands dagegen nicht.“ Davor hatte der damalige Chefökonom des Internationalen Währungsfonds, Olivier Blanchard, bereits 2010 gewarnt. Wäre der Großteil der Haushaltskonsolidierung Griechenlands auf die Zeit nach der wirtschaftlichen Erholung verschoben worden, so hätten 80 Prozent des Produktionsverlustes vermieden werden können, schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.
Kann der irische Erfolg überhaupt als Erfolg bezeichnet werden?
Die „harten Reformen“ haben in Irland laut Merkel zum „Erfolg“ geführt. Der zentrale Erfolg besteht darin, dass Irlands Wirtschaft gewachsen ist und sich das Land daher wieder selbst an den Finanzmärkten refinanzieren kann, sprich: Irland wird von den Märkten wieder als guter Schuldner akzeptiert. Zu den Schattenseiten dieses Erfolgs gehört aber auch, dass 2015 über 30 Prozent der Iren unter ökonomischen Entbehrungen litten (Griechenland 37 Prozent). Bei jedem zehnten Iren bestand das Risiko von Nahrungsmittelarmut. Die Gesundheitsausgaben wurden zwischen 2008 und 2014 um 27 Prozent gekürzt. Gespart wurde an der Unterstützung von Alleinerziehenden, an Kindern, Drogenprävention, Lehrern, Schulen. Die Selbstmorde stiegen um 31 Prozent bei Männern und 22 Prozent bei Frauen. Zehntausende Iren haben ihr Eigenheim an die Bank verloren. Das ist der Preis, den die Bevölkerung für die misslungenen Geschäfte der irischen Banken bezahlt haben. Schließlich waren es die staatlichen Bankenrettungsprogramme, die die Staatsschulden Irlands zwischen 2007 und 2012 von 27 auf 120 Prozent des BIP explodieren ließen.