Früher besser informiert.
Meine Abonnements
  • Sie sind nicht eingeloggt.

Faktencheck: “Wir haben eine enorme Lücke an Facharbeitern”

woman working in the quality control in the industry – measurement of a workpiece

Die Unternehmen befürchten, dass ihnen die Mitarbeiter ausgehen und machen Druck auf die Wahlkämpfer. “Die Wirtschaftsverbände (kommen) zu mir und sagen: Wir haben eine enorme Lücke an Facharbeiterinnen und Facharbeitern”, sagte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in der ARD-Wahlarena. “Bis zum Jahr 2040 wahrscheinlich 3,3 Millionen zu wenig in Deutschland.“ Doch sind solche Berechnungen überhaupt ernst zu nehmen? Der Journalistico-Faktencheck.

Wie wird „Fachkräftemangel“ berechnet?
Weder gibt es anerkannte Messverfahren zur Bestimmung „des“ Fachkräftemangels, noch besteht Konsens über „die richtigen“ Kriterien, ab wann für eine Stelle eine Mangeldiagnose zulässig ist. Der Mangel an Konsens über eine qualifizierte Definition und Herleitung eines Fachkräftemangels hat daher ungünstig hinsichtlich des Nutzens dieses Konstrukts einigermaßen „Wildwuchs“ der Methoden begünstigt. So erklärt es sich auch, dass in kurzer Zeit vielfältige Einschätzungen mit „den neuesten Zahlen“ zum Fachkräftemangel präsentiert werden, deren Resultate aber zu stets verschiedenartigen Folgerungen kommen.

Wo kommen die vielen Untersuchungen her?
Studien zum Fachkräftemangel werden überwiegend von privaten Instituten und Beratungshäusern durchgeführt. Diese verwenden eigene Faktoren beziehungsweise  „Hausformeln“, mit denen der Abgleich von Stellenangeboten und Bewerbungslage berechnet wird; und zwar unter Einbezug eigener zusätzlicher Bewertungen zur Wirtschaftslage. Die Maßstäbe für die Berechnungswege können von außen ebenso wenig genau rekonstruiert werden, wie eine zuverlässige Datengrundlage möglich ist. Der Arbeitsökonom Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat wiederholt auf die methodischen Mängel hingewiesen und beispielsweise die „Multiplikation der amtlich gemeldeten offenen Stellen mit einem recht hohen Faktor“ als ungenügend bewertet. Außer Acht bleibe, „ob die gemeldeten Stellen in gesamtwirtschaftlicher Hinsicht überhaupt einen Bedarf anzeigen, der über bloße Betriebswechsel hinausgeht“. Bedarfsmeldungen werden auf der Basis von Abfragen bei den Unternehmen einer Branche oder branchenübergreifend durchgeführt. Die eigenen Meldungen der Unternehmen fließen ungefiltert in die Analyse ein.

Gibt es trotz der Unterschiede auch offizielle Quellen?
Das einzige amtliche Register bietet die Bundesagentur für Arbeit, die mit Zurückhaltung von „Fachkräfteengpassanalysen“ spricht. Auf der regelmäßig aktualisierten Berechnungsseite heißt es: „Nach Einschätzung der Bundesagentur für Arbeit gibt es keinen flächendeckenden Fachkräftemangel in Deutschland. Es gibt jedoch Engpässe in einzelnen technischen Berufsfeldern, Bauberufen sowie in einigen Gesundheits- und Pflegeberufen.“ Grundsätzlich stehen die gemeldeten Arbeitslosen gegenüber den gemeldeten Stellen (unbereinigt nach konkreten Anforderungsprofilen) derzeit im deutlichen Plus.

Mitarbeiterbedarf
Gemeldete sozial-verspfl. Stellen* Arbeitslose* Vakanzzeit (in Tagen, im Schnitt)
Fachkraft 290.000 1.005.000 101
Spezialist 46.000 125.000 105
Experte 52.000 151.000 91
Insgesamt 387.000 1.281.000 100

*gleitender Jahresdurchschnittsbestand Mai 2016 bis April 2017

Man liest doch auch vom „Mythos“ oder „Märchen“ Fachkräftemangel?
Bei der Analyse von Fachkräfteengpässen sind eine Reihe von methodischen Problemen zu beachten. Zum einen führen zukunftsgerichtete Prognosen des Arbeitsmarktes zu einer Beeinflussung von dessen Akteuren. Denn die Zahlen forcieren politische Maßnahmen und „schubsen“ Politiker in bestimmte Richtungen. Und das obwohl die Bemessungsgrundlagen insgesamt nicht eindeutig sind. Je weiter die Prognose in die Zukunft gerichtet ist, desto unsicherer wird sie. Ein Beispiel dafür bietet die jüngste, unter starker medialer Resonanz vorgestellte Analyse des Prognos-Instituts in Basel, das bis 2040 (immerhin über ein Jahrzehnt in der Zukunft einer Wirtschaft, über deren Bedingungen wegen der rapiden Umbrüchen man so gut wie nichts genaues wissen kann) rund 3,3 Millionen unbesetzte Stellen für Deutschland sieht.

Ein weiteres Problem ist die unvermeidlich interessengeleitete Datenverwendung. Branchenverbände und Beratungshäuser können Prognosen zur politischen Aktivierung und eigenen Vermarktung verwenden. Unternehmen können mit hohen Defizitmeldungen eine deutlich höhere Bewerbungsneigung motivieren, etwa weil sie mit eingehenden Bewerbungen nicht zufrieden sind. Dies führt zu einer steigenden Selektion von (fast) idealen Kandidaten, wodurch Personen, die einer Anpassungsqualifizierung oder Nachschulung bedürfen, geringere Chancen auf Beschäftigung haben. Das „Abstufungs“-Phänomen wurde besonders für eine hohe Zahl älterer Ingenieure beobachtet. Unternehmen neigen zur Beschäftigung jüngerer Ingenieure (zu gehaltlich ungünstigeren Konditionen).

Welche Rolle spielen die Löhne?
Besetzungsmängel können stark monetär bedingt sein. Höhere Lohnangebote führen dazu, dass sich besonders geeignete Kandidaten motiviert sehen. Umgekehrt kann aber durch zu niedrige Vergütung der Stellen ein tatsächlicher Mangel an Bewerbungen von Unternehmensseite selbst verursacht werden. Von Bewerbern mit mangelnder Qualifikation kann hier also keine Rede sein. Im Gegenteil überrascht, dass das viel beschworene „Humankapital“ offenbar zu mehr Mitwirkung an seiner Verwendung aufgefordert wird, als es für andere Kapitalgeber üblich wäre. In dieser Konstellation liegt also eher ein „Kapitalaktivierungsmangel“ vor. Kapitaleintrag von Banken oder Investoren kann schließlich auch nicht durch Appelle, sich den Bedingungen zu fügen, zusätzlich erhöht werden.

Gibt es noch weitere Gründe?
Ein fundamentaler Kritikpunkt wird in der medialen und politischen Darstellung am wenigsten gewürdigt: Man diskutiert den Mangel an Personal durchweg als scheinbar „vom Himmel gefallenes“ Anpassungsdefizit auf Seiten der Beschäftigten. Stets stehen formale Eignungs- beziehungsweise Leistungsmängel im Fokus der Analyse. Die Frage, ob und inwieweit Unternehmen den Besetzungsmangel durch ein Auswahldefizit mit bewirken, bleibt unbeachtet. Schließlich wählen die Personalabteilungen Beschäftigte aus. Steigende Vakanzen von bis zu 100 Tagen werden dabei überhaupt nicht vor dem Hintergrund möglicher Beurteilungs- und Organisationsprobleme in den Betrieben reflektiert.

Haben Unternehmen also gar keine Schwierigkeiten, ihre Stellen zu besetzen?
Aus der Kritik an einem pauschalen Fachkräftemangel kann nicht gefolgert werden, dass gar keine Besetzungsprobleme existierten. Hier ist es wichtig, präzise Eingrenzungen vorzunehmen. Regelmäßig und auch verfestigt kann es zu einem punktuellen, also örtlichen, zeitlichen und fachlichen Mangel an geeignetem Personal kommen. Entsprechend formuliert es auch die Bundesagentur für Arbeit: „Die Engpasssituation zeigt sich dabei für Fachkräfte mit Berufsausbildung und Spezialisten mit Weiterbildungsabschluss angespannter als für Akademiker.“

Gibt es auffällige berufs- und branchenspezifische Besonderheiten?
Engpässe betreffen vor allem den ländlichen Raum, der für höher qualifizierte Beschäftigte als weniger attraktiv gilt sowie Arbeitsbereiche, die besonders hochspezifische Qualifizierungen erfordern. In den niedrigere Qualifikationen voraussetzenden Berufsfeldern ist umgekehrt die geografische Mobilität häufig geringer ausgeprägt, wodurch eine passgerechte Platzierung auf Stellen gehemmt wird. Besondere Probleme zeigt der medizinische Sektor mit einer angespannten flächenmäßigen ärztlichen Versorgung („Landärztesterben“). Mängel dieser Art gründen besonders in vergleichsweise hohen Anforderungen beim Zugang zum medizinischen Studium. Letztere Phänomene werden in der gängigen Debatte um den primär technischen Fachkräftemangel aber nicht beziehungsweise als Sonderbereiche adressiert. „Fachkräftemangel“ kommt also aufgrund sehr spezifischer Betriebs-, Qualifikations- und Umfeldbedingungen zustande. Im Bereich der pflegerischen Berufe verschärfen unzureichende Ausfinanzierung und dadurch niedrige Gehaltsaussichten die Problematik der Stellenbesetzung. Wiederum ist dies vorrangig ein Problem mangelnder Zahlungsbereitschaften bzw. -möglichkeiten der Branche, nicht etwa mangelnder Fähigkeiten von Beschäftigten.

Ist der spezifische Fachkräftemangel also nur ein Problem der Arbeitgeber?
Vor allem infrastrukturelle Maßnahmen und erhöhte monetäre Anreize können den ländlichen Raum aufwerten, was insbesondere vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung eine gesellschaftliche Herausforderung darstellen dürfte, um der zu Recht vertretenen Befürchtung von wirtschaftlich „abgehängten“ Landesteilen entgegenzuwirken. Dies führt allerdings vor Augen, dass ein Mangel an Personal auch in diesen Gebieten nicht allein über Appelle an die Beschäftigungsfähigkeit und höhere Bewerbungsbereitschaft zu bewältigen ist, sondern im wesentlichen staatliche und privatwirtschaftliche Investitionen in die regionale beziehungsweise kommunale öffentliche Struktur erfordert. Es sind vor allem die kommunalen Versorgungs- und Erschließungsverhältnisse, die über die Attraktivität des Lebensstandards einer Region entscheiden. Dass hiervon traditionell strukturschwache Gebiete und die östlichen Länder tendenziell stärker als die westlichen betroffen sind, gilt als gesichert. Die historisch bedingte, schwächere Ausbildung von Ballungszentren im Osten verstärkt das Problem, da sie anhaltende Abwanderung qualifizierter Fachkräfte in das Westgebiet motiviert.

Wie lautet das Fazit?
Regionale, branchen- und berufsspezifische Hindernisse bestehen sowohl konjunkturell als auch in Hinblick auf die Bedingungen des örtlichen Umfelds insbesondere kleinerer und mittlerer Unternehmen (öffentliche Infrastruktur, Verkehrsnetze, soziale Versorgung etc.). Derart einzugrenzende Mängel an Personal sind durchaus begründet darzustellen. Hingegen kann jedoch von einem für Deutschland insgesamt flächendeckenden, strukturbildenden und branchenübergreifenden Fachkräftemangel sachlich nicht die Rede sein. Von politischer und ökonomischer Seite müssen die Unternehmen-Umfeld-Bedingungen fokussiert werden, statt regelmäßig einseitig nur auf personelle Platzierungsdefizite abzustellen. Erstaunlich ist, wie wenig auch von medialer Seite die Vergütungsbereitschaft auf Seiten der Wirtschaft problematisiert wird, wenn alle Monate wieder die Meldungen über die neueste Mangeldiagnose durchs Land gehen. Dieser Punkt wird sich insbesondere im medizinischen und pflegerischen Bereich voraussichtlich noch längere Zeit als prekär erweisen. Anpassungsdefizite auf Seiten der Beschäftigten müssen im Zusammenhang mit Auswahldefiziten auf Seite der Arbeitgeber betrachtet werden. Darauf weist auch der bekannte Ökonom Thomas Straubhaar hin. Andernfalls geraten Prognosen zu Recht unter Verdacht, eine tendenziöse Prägung aufzuweisen beziehungsweise als „Druckmittel“ gegenüber politischen Entscheidern in Anschlag gebracht zu werden.

Update 20.9.2017, 18.05 Uhr: Wir haben Überschrift und Vorspann neu verfasst.

Verwandte Beiträge