Kein Arzt, kein Friseursalon, keine Zukunft? Lange klangen die Beschreibungen für die Dörfer auf dem Land durchweg düster. Fernab der Großstädte galt: Wer kann, geht weg. Im Raum standen Fragen wie: „Dörfer lieber dicht machen?“ Nun zeichnet sich eine Trendumkehr ab: An die Stelle der Land- tritt die Stadtflucht. Immer mehr, gerade junge Menschen wagen den Umzug aufs Land.
Stadtflucht in die “Speckwürfel”
Die sogenannte Provinz erlebt eine neue Beliebtheit. „Die neue Landlust ist da“, sagt Catherina Hinz, die Direktorin des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Dieses unabhängige Institut hat gemeinsam mit der Wüstenrot Stiftung das Umzugsgeschehen der vergangenen gut zehn Jahre analysiert.
Demnach ziehen die Menschen nicht mehr nur in die „Speckgürtel“, in die Umlandregionen der großen Städte. Der Umzug aufs Land führt jetzt mehr und mehr auch in entlegenere Gebiete. Von „Speckwürfeln“ sprechen die Forschenden: Auch sprachlich bringt die Stadtflucht ganz neue Phänomene hervor.
Umzug aufs Land: Auch dünn besiedelte Gebiete werden beliebter
In den Jahren 2008 bis 2010 gewannen vor allem die großen deutschen Städte und ihr Umland – Berlin, Hamburg, Leipzig, Dresden, Frankfurt, München – Einwohnerinnen und Einwohner hinzu, weil Universitäten und das kulturelle Angebot lockten.
Mittlerweile verzeichnen zwei von drei Landgemeinden, das sind Städte und Dörfer mit weniger als 5000 Einwohnenden, Wanderungsgewinne. Es ziehen mehr Leute dort hin als von dort fort. Dabei spielt es für den Umzug aufs Land offenbar nicht mehr die große Rolle, wo diese Gemeinden liegen – in der Nähe einer Stadt oder in dünn besiedelten und entlegenen Regionen, in Ost oder West.
Die Großstädte wachsen trotz Stadtflucht zwar immer noch, aber nicht mehr so schnell. Von 2018 bis 2020 verbuchten sie im Durchschnitt nur noch jährliche Wanderungsgewinne von 2,5 je tausend Einwohnenden.
Fehlender Wohnraum: Jungen Familien treten die Stadtflucht an
Es sind die ganz jungen Leute zwischen 18 und 24 Jahren, die weiterhin in Städte wie Leipzig, Münster oder Berlin ziehen für einen Ausbildungs- oder Studienplatz. Auch bei Zuwandernden aus dem Ausland sind die urbanen Zentren nach wie vor beliebt.
Doch Familien und Berufseinsteiger kehren den Großstädten den Rücken. Bezahlbarer Wohnraum ist dort knapp und das Leben wird seit Ende der 2000er Jahre zunehmend teurer. Das sind gewichtige Argumente für einen Umzug aufs Land.
Die Corona-Pandemie hat das Stadtleben noch einmal unattraktiver gemacht – und die schon 2017 einsetzende Stadtflucht verstärkt. So verloren die Großstädte im ersten Jahr der Pandemie unter dem Strich knapp ein Tausendstel der Bürgerinnen und Bürger.
Die Digitalisierung erleichtert den Umzug aufs Land
„Umzugshelfer“ seien die Digitalisierung und die neue Arbeitswelt mit Homeoffice, sagt Manuel Slupina, der das Themengebiet Stadt & Land bei der Wüstenrot Stiftung leitet. Wer nicht mehr so oft ins Büro muss, kann sich ein Leben auf dem Land leichter vorstellen.
Was das alles heißt? Aufhalten kann die Stadtflucht die Schrumpfung der Gemeinden insgesamt nicht, so die Expertinnen und Experten. Die Alterung schreite voran, die Sterbezahlen seien vergleichsweise hoch. In jedem dritten Gemeindeverband schrumpfe die Bevölkerungszahl trotz der Zuziehenden.
Städte haben ein Attraktivitätsproblem
Trotzdem bietet der Umzug aufs Land von jungen Familien und Fachkräften den kleinen Gemeinden jetzt eine neue Chance. Die Schule kann womöglich erhalten bleiben, der Dorfladen rechnet sich wieder, der offene Job bei einem ländlichen Mittelständler kann schneller besetzt, die Attraktivität der Orte mit neuen Ideen und Initiativen von alten und neuen Landbewohnern gestärkt werden.
Städte sind einer weiteren aktuellen Studie zufolge vor allem dann zum Leben attraktiv, wenn sie sicher sind und genügend günstigen Wohnraum offerieren. Freizeitangebote oder Arbeitsmöglichkeiten sind demnach bei weitem nicht so wichtig. In den Augen vieler Menschen wird das Stadtleben unattraktiver.
Städte- und Gemeindebund will die Stadtflucht fördern
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund wirbt offensiv für den Umzug aufs Land. In abgelegenen ländlichen Regionen stünden 1,5 Millionen Wohnungen leer, während in den Städten der Neubau nicht vorankomme. Während auf dem Land bestehende Infrastruktur nicht genutzt wird, sollen in den Städten ressourcenintensiv neue Wohngelegenheiten entstehen.
“Man sollte überlegen, ob man Menschen ein interessantes Angebot machen kann, dass sie dort (aufs Land, d.R.) hinziehen”, sagte Geschäftsführer Gerd Landsberg der Zeitung “Die Welt”. Das ginge etwa mit der nötigen Verkehrsinfrastruktur. “So könnten Menschen in diesen Regionen einerseits im Home Office arbeiten und an den anderen Tagen auch gut in ihre Betriebe kommen”, so Landsberg. In der Stadtflucht könnte für Städte und Dörfer eine Chance liegen.
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