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Radprofessorin: „Alles spricht für Tempo 30″

Jana Kühl ist die erste Radprofessorin Deutschlands. Im Interview erläutert sie, warum Tempo 30 und andere Maßnahmen sinnvoll sind.
Jana Kühl, die erste deutsche Radprofessorin. (Foto: Ostfalia / Matthias Nickel)
Jana Kühl, die erste deutsche Radprofessorin. (Foto: Ostfalia / Matthias Nickel)

Wie werden Städte lebenswerter? Und wie kann der Konflikt zwischen Autofahrern und Radfahrern entschärft werden? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Deutschlands erste Radprofessorin Jana Kühl. Allein dieser Titel sei eine Provokation für viele in diesem autoverrückten Land, sagt sie gleich zu Beginn unseres Interviews.

Frau Kühl, wie viele Feinde haben Sie sich schon gemacht, seit Sie die erste Radprofessur Deutschlands übernommen haben?

Jana Kühl: Ich habe aufgehört, unsachliche Kommentare zu lesen, weil das auch an die Substanz geht. Allein die Radprofessur ist eine Provokation. Das Rad, auch der Fußverkehr bekommen allmählich eine stärkere Position in der Verkehrsplanung – und in der Folge mehr Platz. Das ist für viele eine Erschütterung, weil sich bisher alles um Autos drehte, das Leitbild die autogerechte Stadt war. Jetzt wird daran gerüttelt.

Zur Person

Jana Kühl ist Professorin für Radverkehrsmanagement an der Ostfalia Hochschule in Salzgitter. Studiert hat sie Geographie. Als sie vor knapp einem Jahr ihren Posten antrat, hatte es in Deutschland noch nie eine Radprofessur gegeben. Sie besetzte die erste von sieben Stiftungsprofessuren, die das Bundesverkehrsministerium neu eingerichtet hat. Kühl selbst besitzt fünf Fahrräder, eines für jede Alltagssituation. Das Rad ist ihr Hauptverkehrsmittel für alle Strecken unter 15 Kilometer, alles andere fährt sie mit Bus und Bahn. Ein Auto hat sie nicht.

Sie selbst fahren mit dem Rad neun Kilometer zum Büro. Was muten Sie Leuten zu?

Ich bin nicht übermäßig sportlich. Aber wenn man sich regelmäßig bewegt, sind neun Kilometer nicht schwer. Die Bewegung ist zudem gut für die eigene Gesundheit. Natürlich ist es unterschiedlich, was sich jeder zutraut und kann. Aber fünf Kilometer mit dem Fahrrad sind für eine gesunde Person eigentlich nie ein Problem. Wenn man Auto, Bahn und Rad vergleicht, dann ist das Rad gerade in der Stadt meist schneller. Bei einer Distanz von etwa zehn bis 15 Kilometern kann auch das E-Bike gut sein. Keine Staus, keine Parkplatzsuche. Am umweltverträglichsten ist es sowieso.

Noch bricht der Pkw-Bestand Rekord für Rekord, derzeit sind es 48 Millionen.

Das zeigt sehr gut, wo wir in der Verkehrswende stehen.

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Autofahrer fühlen sich angegriffen, die Radfahrenden kommen scheinbar von überall her, brauchen Aufmerksamkeit. Das sorgt für Stress.

Jana Kühl

Wer macht es besser?

Große europäische Städte denken um. Barcelona hat Superblocks eingerichtet – der Slogan war „Lasst uns die Straßen mit Leben erfüllen”. Da geht es um vier bis neun Häuserblöcke. Die Autos dürfen zwar reinfahren, sind dort aber nur zu Gast. Eigentlich werden sie außen rumgeleitet. Paris hat beide Uferstraßen an der Seine für Autos gesperrt und für Fußgänger und Radfahrer geöffnet. Aber natürlich muss man immer auch noch zur Arbeit kommen können. Mit ein bisschen Flexibilität funktioniert das auch. Manchmal sind es nur ein paar Schritte mehr, die zu gehen sind, weil der Parkplatz verlegt wurde. Konflikte darf man allerdings auch nicht ignorieren, da müssen Alternativen entwickelt werden, sonst fühlen sich die Leute vor den Kopf gestoßen.

Warum ist das alles so emotional?

Radfahrende haben wenig Schutz, kein Blech, keine Hülle rundherum. Gleichzeitig fehlen Radwege oder sie enden unverhofft. Radfahrende müssen von vornherein um ihren Platz auf der Straße kämpfen. Zumindest theoretisch. Das scheint aber schon zu reichen, um beim Gegenüber das Gleiche auszulösen: Ich muss meinen Platz verteidigen und möchte nicht durch lästige Fahrräder ausgebremst werden. Autofahrer fühlen sich angegriffen, die Radfahrenden kommen scheinbar von überall her, brauchen Aufmerksamkeit. Das sorgt für Stress. Es wird ruppig. Das wird sich nicht legen, solange Radfahrende nicht ihren geschützten Platz auf der Straße haben, möglichst abgetrennt von den Autos.

Wie lassen sich Konflikte sonst noch entschärfen?

Sie gleichen die Geschwindigkeit von Auto- und Radverkehr an.

Sie wollen in Städten Tempo 30?

In den verdichteten Innenstadtgebieten macht das absolut Sinn. Es erhöht die Verkehrssicherheit für alle. Sie haben dann mehr Zeit in heiklen Situationen zu reagieren. Alles spricht für Tempo 30. Außer das allgemeine Selbstverständnis, dass Autos überall freie Fahrt haben sollen. Die Autos haben weniger Stop and Go-Phasen, der Verkehrsfluss ist besser, es staut sich seltener. Paris macht das jetzt. In Deutschland ist Tempo 30 nach der Straßenverkehrsordnung aber nur an sensiblen Ort möglich, wie etwa an Krankenhäusern, Schulen oder Kitas.

“Bauen oder sanieren wir eine Straße, bauen wir einen Radweg. Das muss der Standard sein.”

Jana Kühl

Wie lange dauert es einen Radweg zu bauen?

Fünf bis zehn Jahre. Viel Zeit wird mit Grundsatzdebatten vergeudet, mit der Frage, ob es überhaupt notwendig ist, an dieser oder jener Straße einen Radweg zu bauen. Das kann man sich sparen. Bauen oder sanieren wir eine Straße, bauen wir einen Radweg. Das muss der Standard sein. Alles andere überlastet die Zuständigen in den Verwaltungen, die oft ganz viel machen müssen. Da läuft der Radverkehr oft nur nebenbei. Wer vorankommen will, braucht extra Personalstellen und Experten für Radverkehr, die sich explizit dem Radverkehr widmen können.

Strengere Regeln für die Luftqualität

Die Luft muss besser werden. Am Mittwoch hat die WHO, die Weltgesundheitsorganisation, ihre neuen Leitlinien zur Luftqualität veröffentlicht. Entscheidend für Deutschland: Die Belastungen mit Feinstaub und Stickstoffdioxid (NO2) müssen massiv runter. Die Auswirkungen auf die Gesundheit zeigten sich bei noch geringeren Konzentrationen als bisher gedacht, so die WHO. Kinder leiden an Atemwegserkrankungen und Asthma. Erwachsene kämpfen mit Herzproblemen, erleiden Schlaganfälle, bekommen Diabetes oder Probleme mit dem Nervensystem. Und viele sterben frühzeitig. Das Europäische Parlament hat bereits gefordert, die EU-weiten Vorgaben, so sagt das der grüne Europaabgeordnete Sven Giegold, „vollständig“ an die WHO-Leitlinien anzugleichen. Voraussichtlich im kommenden Jahr wird die EU-Kommission einen Gesetzesentwurf vorlegen. Deutsche Städte haben jetzt schon vielfach Probleme, die Grenzwerte einzuhalten.

Die Niederlande geben für den Radverkehr etwa 30 Euro pro Kopf und Jahr aus, in Deutschland sind es 11 Euro.

Das ist besser als nichts, aber man sieht in Holland auch, was möglich ist. Die Autoinfrastruktur war und ist zudem um ein Vielfaches teurer.

Die Verlängerung der A100 in Berlin – 3,2 Kilometer – kostet 700 Millionen Euro.

Das ist sehr grob überschlagen mehr als 200 Mal so viel wie für einen gut ausgebauten Radschnellweg gleicher Länge gezahlt werden müsste.

Und wenn erst einmal die Radwege saniert werden, die schon da sind?

In den Niederlanden werden zum Beispiel Wurzelaufbrüche auf Radwegen regelmäßig repariert. Das ist dann nicht perfekt, aber es reduziert die Sturzgefahr. Reinigung und Winterdienst sind ebenfalls zentral. Damit wäre schon was getan. Die nächste Bundesregierung müsste aber auch für mehr Verbindlichkeit sorgen, dass sich auf der Straße wirklich etwas verändert. Es wäre ein Anfang, müssten alle Städte einen Plan vorlegen, wie sie den Radverkehr voranbringen.

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