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Faktencheck: Die Flüchtlingssituation 2015 droht sich zu wiederholen

Abandoned belongings and life jackets on the shore

Die Asyl- und Flüchtlingspolitik wird zu einem der wichtigsten Wahlkampfthemen. Während Angela Merkel in den Spitzenzeiten der Zuwanderung von der SPD noch Unterstützung für ihre Flüchtlingspolitik erhielt, distanzieren sich nun beide Parteien von der damaligen Haltung. Im CDU-Wahlprogramm heißt es: „Eine Situation wie im Jahre 2015 soll und darf sich nicht wiederholen“. Und Martin Schulz sagte, etwa der Bild am Sonntag: „2015 kamen über eine Million Flüchtlinge nach Deutschland – weitgehend unkontrolliert. (…) Wenn wir jetzt nicht handeln, droht sich die Situation zu wiederholen.“ Was ist dran? Der Journalistico-Faktencheck.

Wie viele Flüchtlinge kamen in der Krise tatsächlich nach Deutschland?
Im Jahr 2015 waren es nach Angaben des Bundesinnenministeriums 890.000 Einreisen, im Jahr 2016 nur noch 280.000. Die „über eine Million“ wurde also in einem Zeitraum von zwei Jahren erreicht. Die Zahlen sind auch weiter rückläufig: Im Januar waren es noch 14.476 Neuzugänge. Die SPD räumte dazu ein: „Die Lage heute ist mit der von 2015 nicht vergleichbar. Deutschland hat heute wieder die Kontrolle über die Zuwanderung von Flüchtlingen bekommen.“

Aber wie viele kamen nach Europa?
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat für das Jahr 2015 insgesamt 1,049 Millionen, für 2016 dann noch 374.000 illegale Grenzübertritte erfasst. Die Flüchtlinge kamen über zwei Routen: die östliche Mittelmeerroute – von der Türkei nach Griechenland über Land oder See – und über die zentrale Mittelmeerroute, also im Boot von Libyen nach Italien. Dass die Gesamtzahlen gesunken sind, liegt vor allem am drastischen Rückgang auf der Türkei-Route: Waren es im Jahr 2015 noch 885.400 Personen, die über diesen Weg kamen, waren es 2016 nur noch 182.534. Dies habe mit dem Türkei-Abkommen zu tun, erklärt Sylke Tempel, Chefredakteurin des Magazins „Internationale Politik“ der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

Was war das nochmal für ein Deal?
Das im März 2016 geschlossene Abkommen zwischen der EU und der Türkei sieht vor, dass irreguläre Migranten auf den griechischen Inseln in die Türkei zurückgeführt werden und die EU-Staaten dafür Syrer aus der Türkei aufnehmen. Zusätzlich soll das Land sich bemühen, Zuwanderung nach Europa zu stoppen. Im Gegenzug zahlt die EU der Türkei sechs Milliarden Euro zur Flüchtlingsintegration. Auch wurden Zugeständnisse bei der Visaliberalisierung gemacht.

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Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) analysiert, dass es der EU mit hohem Mitteleinsatz gelungen sei, „den östlichen Mittelmeerraum weitgehend abzuriegeln“, schreibt Raphael Bossong. Als mögliche Fluchtroute für Hunderttausende bleibt also nur noch das zentrale Mittelmeer.

Wie sieht es da aus?
Diese Route ist der Hotspot: Immer mehr Migranten kommen übers zentrale Mittelmeer nach Italien: Im ersten Halbjahr erreichten so nach UNHCR-Angaben bereits 83.752 Menschen Italien. 2.171 kamen bei dem Versuch ums Leben oder gelten als vermisst. Der Pro-Asyl-Europaexperte Karl Kopp nennt den Trek daher die „Höllenroute“. Zuletzt wurde mehr als die Hälfte der Flüchtlinge von Handelsschiffen oder Helferbooten von Nichtregierungsorganisationen gerettet.

Reicht das, um wieder eine Situation wie 2015/2016 zu erreichen?
Eher nicht. Einerseits arbeitet die EU daran, mit Libyen einen ähnlichen Flüchtlingsdeal abzuschließen wie mit der Türkei. Zudem erhalten afrikanische Anrainerstaaten seit 2015 verstärkt europäische Mittel, um ihre Land-, See- und Luftgrenzen auszubauen. So sollen irreguläre Migration und Menschenschmuggel bekämpft werden. Andererseits setzt Italien auf die Eindämmung der freiwilligen Seenotrettung.

Wie geht Italien da vor?
Das Innenministerium hat Nichtregierungsorganisationen aufgefordert, bei der Seenotrettung nicht in die Gewässer Libyens vorzudringen. Sie sollen einen Verhaltenskodex unterzeichnen, den einige Asylexperten kritisieren. Nachdem „Jugend rettet“ seine Unterschrift verweigerte, beschlagnahmte die italienische Küstenwache deren Schiff „Iuventa“. „Die Drohungen gegen die Seenotretter haben dazu geführt, dass viele ihre Arbeit eingestellt haben“, sagt Kopp von Pro Asyl. Die Folge dürfte sein, dass die Todeszahlen steigen, weniger Menschen die Überfahrt riskieren – und folglich auch weniger in Italien ankommen.

Könnten über Ostafrika, wo besonders viele Bürgerkriege toben, viele Menschen kommen?
Die UNHCR-Statistik zeigt, dass auch Boote aus Ostafrika kommen, etwa in Richtung Kreta. Doch auch hier arbeitet die EU mit den Staaten am Horn von Afrika (Äthiopien, Djibouti, Eritrea, Kenia, Somalia, Südsudan, Sudan und Uganda) an einer Eindämmung der Migration und einer Vor-Ort-Betreuung der Flüchtlinge. Eine Analyse der SWP kommt zu dem Ergebnis, dass das Programm zwar menschenrechtliche Aspekte berücksichtige, aber zugleich autoritäre Machthaber stärken könnte, die Menschenrechtsverletzungen begehen.

Bleibt noch irgendein Szenario für die Befürchtung von CDU und SPD?
Die Flüchtlingszahlen könnten dann wieder dramatisch steigen, wenn das Türkei-Abkommen scheitert. Angesichts der wachsenden Distanz zwischen EU und Staatschef Recep Tayyip Erdogan ist das kein unwahrscheinliches Szenario. Erdogan hat schon mehrfach mit der Aufkündigung des Flüchtlingsdeals gedroht, zuletzt im März, nachdem die niederländische Regierung zwei türkische Minister daran gehindert hatte, an einer Wahlkampfveranstaltung für das umstrittene Verfassungsreferendum teilzunehmen. Andererseits blieb es bislang stets bei Drohungen. Beide Seiten haben ein hohes Interesse an dem Abkommen

Letztes Update: Montag, 28.08.2017, 14.27 Uhr: Vorspann und letzte Frage um CDU ergänzt.

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