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Bundesregierung: Keine Zeit für 100 Tage Schonfrist

In normalen Zeiten gilt für die neue Bundesregierung 100 Tage Schonfrist. Aktuell ist das unvorstellbar – zu drängend sind die Probleme.
Keine Pause für die Bundesregierung: Olaf Scholz und Robert Habeck bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts. (Foto: Bundesregierung/Denzel)
Keine Pause für die Bundesregierung: Olaf Scholz und Robert Habeck bei einer Sitzung des Sicherheitskabinetts. (Foto: Bundesregierung/Denzel)

In normalen Zeiten gilt für neue Regierungen eine Schonfrist. Koalitionen bekommen 100 Tage Zeit zugestanden, um sich erst einmal zu finden, Abläufe abzustimmen und sich darüber zu einigen, welche Themen die dringendsten sind. Aber was sind schon normale Zeiten? Und was wäre gerade nicht dringend?

Wer dieser Tage die Zeitung aufschlägt, das Radio oder den Fernseher anschaltet, erfährt dort das Neueste über Wladimir Putins Angriffs gegen die Ukraine. Längst ist jedem und jeder klar, dass dieser Krieg Auswirkungen auf Europa und womöglich die ganze Weltgemeinschaft haben wird. Und damit auch auf alle Bürgerinnen und Bürger hierzulande. Der Blick auf die Preistafel an der Tankstelle, auf die Rechnungen der Energieanbieter zeigen es. Angesichts der erschütternden Nachrichten aus der Ukraine wirkt derlei fast nachrangig. Die Menschen dort sind ungleich größeren Härten ausgesetzt. Da ist ihre Angst vor Tod und Verletzungen, der Schrecken der Kinder, die Sorge um die Angehörigen und die Frage, welcher Zukunft das Land entgegensieht.

Keine 100 Tage Pause für die Bundesregierung

Für die nun bald 100 Tage arbeitende Bundesregierung ist daraus eine komplexe innen- und außen-, wirtschafts- und finanzpolitische Aufgabe entstanden. Olaf Scholz und seiner Truppe bleibt kaum Zeit zum Abwägen. Man erkennt es an den Krisentreffen im Tagestakt, an den übermüdeten Gesichtern der Kabinettsmitglieder, an der tastenden Wortwahl der Ministerinnen und Minister. Mitten im rasend voranschreitenden Weltgeschehen nach einer Hundert-Tage-Bilanz zu fragen, scheint daher deplatziert.

Und doch müssen sich die Politik und ihre Institutionen um die Belange der Bürger kümmern. In Berlin sind die Abgeordneten in den nächsten beiden Wochen vor Ort, um über das zu debattieren und zu entscheiden, was vor dem Ukrainekrieg Alltag genannt worden ist. Es geht um Parteispenden und den Heizkostenzuschuss, um den Einsatz von Bundeswehr-Soldaten im Südsusan und ökologische Verkehrsprojekte. Zu wissen, dass dieser parlamentarische Riesenapparat im Hintergrund weiter arbeitet, ist ein kleines Zeichen der Ermutigung. Die Botschaft lautet: Es gibt ein Morgen, um das wir uns kümmern.

Die letzten zwei Jahre: Eine Zeit voller Krisen

Dieses Morgen ist eigentlich seit langer Zeit ein Corona-Jetzt. Vor genau zwei Jahren hat das Kabinett Merkel den ersten Lockdown verhängt. Mitten im Frühling kam das Land zum Stillstand. Dass auch diese Krise sich auf alle Lebensbereiche auswirken würde, war damals noch nicht abzusehen. Und dass die Nachrichtenlage einfacher gewesen wäre, kann auch nicht behauptet werden. Im Februar hatte in Hanau ein Rechtsextremist zehn Menschen ermordet. Kurz zuvor hatte die Thüringer CDU gemeinsam mit der AfD einen Ministerpräsidenten gewählt. Und weil Donald Trump Chinas Corona-Politik nicht passte, verkündete er kurzerhand den Austritt der USA aus der Weltgesundheitsorganisation.

Auch damals stand die Bundesregierung unter erheblichem Handlungsdruck. Treffen der Staatschefs wurden ins Internet verlegt, die Statements der Kanzlerin und der Ministerpräsidenten wurden live verfolgt. Die Hoffnung, dass das ganze Land sich einfach mal einen Frühling lang zusammenreißen müsste, um eine globale Pandemie zu überwinden, sollte sich bekanntlich nicht erfüllen. Und es wurden unendlich viele Fehler gemacht. Aber den Bürgerinnen und Bürgern wurde politikseitig das Gefühl vermittelt, es werde sich gekümmert.

Corona und Ukraine-Krieg bestimmen die politische Tagesordnung

Damals wie heute trägt diese Überzeugung: dass es ein Morgen gibt, geben muss. Weil Weltpolitik Realpolitik ist – und umgekehrt. Als müsse diese Tatsache noch einmal erfahrbar gemacht werden, sieht die aktuelle Tagesordnung des Bundestages genau diesen Zweiklang vor. Am Donnerstagmorgen um neun Uhr wird der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij zu den Abgeordneten des Deutschen Bundestages – also zum ganzen Land – sprechen. Und gleich anschließend diskutiert das Plenum die umstrittenen Gesetzentwürfe zu einer allgemeinen Impfpflicht. Mehr Gleichzeitigkeit zweier langfristiger Großthemen scheint kaum vorstellbar. Sich angesichts einer derartigen Komplexität auf 100 Tage zu kaprizieren, wäre politisch kurzsichtig.

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