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Agravis: Tote und Verletzte bei Sojaanbau in Brasilien

Das Unternehmen Agravis importiert angeblich Produkte von einer brasilianischen Genossenschaft, die in Konflikte mit Indigenen verwickelt ist.
Anführerinnen der indigenen Guarani-Kaiowá zeigen die Gummigeschosshülsen und Tränengasreste eines der Angriffe, denen sie im Mai ausgesetzt waren. (Foto: Marcos Weiske)
Anführerinnen der indigenen Guarani-Kaiowá zeigen die Gummigeschosshülsen und Tränengasreste eines der Angriffe, denen sie im Mai ausgesetzt waren. (Foto: Marcos Weiske)

Hiesige Unternehmen müssen sich seit Jahresbeginn verbindlicher um die Menschenrechte bei ihren ausländischen Lieferanten kümmern. Welche Herausforderungen das neue Lieferkettengesetz für die Firmen mit sich bringen kann, zeigt der Fall des Agrarhändlers Agravis aus Münster. Ihm wird vorgeworfen, unter anderem Soja von brasilianischen Farmen zu beziehen, auf denen es zu gewalttätigen Konflikten um Land kommt.

Der Konflikt zwischen Farmern und Indigenen bricht neu aus

Die Christliche Initiative Romero (CIR), eine entwicklungspolitische Organisation aus Münster, stellt den Fall so dar: Ende Mai habe ein Farmer einen Anwohner der indigenen Gruppe der Guarani-Kaiowá erschossen, als dieser an der Grenze des indigenen Siedlungsgebietes Holz hackte. Dadurch sei im Ort Amambai im brasilianischen Bundesstaat Mato Grosso do Sul nahe Paraguay eine alte Auseinandersetzung wieder aufgebrochen: der Konflikt zwischen Großgrundbesitzern und Farmern – Nachfahren der europäischen Kolonisatoren – und Indigenen um die Nutzung desselben Landes. Letztere hätten dann einige Gebiete besetzt – „friedlich“, wie CIR erklärt. Darauf hätten Polizei und Farmer mindestens zwei Protestierer erschossen und neun verletzt.

Agravis könnte in den Konflikt indirekt verwickelt sein

Der Zusammenhang zu Deutschland: Agrarhändler Agravis importiert Soja von der Genossenschaft Coamo, deren Mitglieder bei Amambai große Felder bearbeiten. Nach Angaben von CIR tragen sich die Konflikte auf Land zu, wo Soja und Mais für Coamo und damit potenziell auch für Agravis angebaut werden. Interviews mit Anwohner:innen würden das unter anderem belegen. Die Aktivist:innen fordern nun, dass der Futtermittelhändler Verantwortung übernimmt und künftig dafür sorgt, dass es nicht zu Menschenrechtsverletzungen in seiner Lieferkette kommt – wie es das Lieferkettengesetz verlange. Mit 7,3 Milliarden Euro Umsatz (2021) und 6.400 Beschäftigten ist der börsennotierte Konzern Agravis Raiffeisen AG Deutschlands zweitgrößter Agrarhändler.

Auf Anfrage von Journalistico leitete Agravis eine Erklärung von Coamo weiter. Darin heißt es: „Der Besitzer des umstrittenen Landes ist kein Mitglied der Genossenschaft.“ Außerdem würden die Produkte, die die Firma verkaufe, nicht auf „irregulärem“ Land hergestellt, also nicht auf indigenen Flächen, die sich die Farmer widerrechtlich angeeignet haben. Mehr wollte das Unternehmen nicht zu dem Konflikt sagen. So steht Aussage gegen Aussage.

Lieferkettengesetz betrifft den aktuellen Konflikt – und damit auch Agravis

Aber reicht diese sparsame Reaktion der Firma aus? In wenigen Monaten, wenn das Lieferkettengesetz wirksam wird, wohl nicht mehr. „Grundsätzlich gilt, dass Unternehmen identifizierte Risiken und Vorfälle, sowie ergriffene Maßnahmen veröffentlichen müssen“, sagte Markus Löning. Der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung betreibt eine Beratungsfirma für Unternehmensverantwortung. Gegenüber Journalistico äußerte er sich nicht konkret zum vorliegenden Konflikt, sondern allgemein zu den Wirkungen des Lieferkettengesetzes.

„Das Lieferketten-Sorgfaltspflichten-Gesetz nennt Landrechte als eines der menschenrechtlichen Risiken, die Unternehmen zu beachten haben“, erklärte Löning. Das betreffe direkte Zulieferer, unter bestimmten Umständen auch deren Vorlieferanten. „Die wesentliche Pflicht ist es Risiken zu verringern oder Vorfälle zu beenden, soweit der nötige Einfluss da ist.“

Vor diesem Hintergrund sagte Dominik Gross von CIR: „Wir gehen davon aus, dass Coamo keine ausreichenden Präventionsmaßnahmen vorgenommen hat und damit Coamo und Agravis gegen das Lieferkettengesetz verstoßen.“ Der deutsche Agrarhändler müsse „angemessene Abhilfemaßnahmen“ treffen, um die Menschenrechtsverletzungen „zu minimieren oder zu beenden“. Wenn das nicht helfe, könnten auch die Geschäftsbeziehungen zu Coamo infrage stehen.

Deutsches Lieferkettengesetz greift ab Januar 2023

Ab Januar 2023 müssen sich alle hiesigen Firmen mit mehr als 3.000 Beschäftigten an das Lieferkettengesetz halten. Unter anderem die Rechte auf Arbeitssicherheit, Gewerkschaftsfreiheit, fairen Lohn, Land und sauberes Trinkwasser der Arbeiter und Anwohner von Zulieferern in aller Welt sind dann besser geschützt. Die deutschen Auftraggeber müssen die Risiken in ihren Lieferketten analysieren, dokumentieren, wenn nötig verringern und öffentlich darüber berichten. Tun sie es nicht, drohen Bußgelder und Prozesse vor Gericht.

Das Bundesamt für Wirtschaft, das für die Kontrollen der Unternehmen zuständig ist, kann demnächst die ersten sieben Stellen besetzen. Diese Zahl reiche jedoch nicht aus, beklagt die Initiative Lieferkettengesetz, ein Zusammenschluss von Entwicklungs- und Bürgerrechtsorganisationen sowie Gewerkschaften. Rund 100 Stellen seien nötig.

Auf EU-Ebene ist eine ähnliche Regelung in Planung, die schärfer ausfallen könnte als das deutsche Gesetz. Unter dem Motto „Gerechtigkeit geht jeden etwas an“ (Justice is everybody´s business) fordern rund 100 Organisationen unter anderem, den Zugang von geschädigten Beschäftigten und Anwohnern zu europäischen Gerichten zu erleichtern.

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