Es ist gut möglich, dass die Spitzenvertreter der Ampel aktuell nicht allzu gerne an den verheißungsvollen Titel ihres Koalitionsvertrags erinnert werden. „Mehr Fortschritt wagen”, lautet der. Aber wie soll das gehen in Zeiten eines Angriffskrieges in Europa und der komplexen innen- und außenpolitischen Krisen, die daraus resultieren?
Wer auf die Inhalte schaut, die die Ampel sich ins Programm geschrieben hat – etwa Klimawende, Zuwanderung, Wohnungsbau – kann kaum übersehen, dass es angesichts tagesaktueller Herausforderungen kaum möglich ist, diese auch umzusetzen. Ganz im Gegenteil. Manche Grüne denken nun wegen der Energiekrise laut leise, aber hörbar darüber nach, die letzten drei Kernkraftwerke weiter laufen zu lassen. Die Sozialdemokraten blicken wegen Wladimir Putins erpresserischer Energiepolitik desillusioniert auf ihre Ostpolitik zurück; der Kanzler spricht gar von einer „Zeitenwende”. Und die Liberalen sind gezwungen, das Steuergeld mit vollen Händen auszugeben, statt es wie versprochen zusammenhalten.
Krise in der Ampel-Koalition: Die Nerven liegen blank
Kein Wunder, dass bei den Koalitionären angesichts dieser riesigen Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit die Nerven blank liegen. So hat zum Beispiel kürzlich FDP-Finanzminister Christian Lindner seinen Kabinettskollegen Robert Habeck via Bild aufgefordert, die Verstromung von Gas zu beenden. Der angesprochene Grüne ließ über seine Pressestelle ausrichten: Geht nicht, sonst gibt’s Blackouts bei der Industrie. Man sollte meinen, dass beide die Telefonnummer des jeweils anderen haben. Aber darum geht es offenbar gar nicht. Zusehends wichtiger scheint es, die eigene Partei gut, die Koalitionspartner unfähig dastehen zu lassen.
Viele Bürgerinnen und Bürger sind ob dieser Kommunikation irritiert. Können SPD, Grüne und FDP lösungsorientiert noch zusammenarbeiten? Hält das selbst ernannte Fortschritts-Bündnis dem internen Streit stand? Oder springt die Ampel nicht vielleicht doch schon vor Ablauf der Wahlperiode auf Rot? Gleich mehrere Gründe sprechen gegen ein Ampel-Aus.
Die Rückkehr der Streitkultur
Zum einen ist da die Rückkehr der Streitkultur. In sechzehn Jahren Merkel-Kanzlerinnenschaft war es normal, dass im politischen Apparat Konflikte hinter verschlossenen Türen beigelegt wurden. Die Menschen waren es gewöhnt, Lösungen präsentiert zu bekommen, statt Lösungsprozessen beizuwohnen. Das ist nun ungewohnt anders.
Daraus folgt, zum zweiten, dass sich auch die Bürgerinnen und Bürger mit komplexen Problemstellungen herumplagen müssen. Oder können – das muss jeder für sich entscheiden. Christian Lindner hat schlicht recht, wenn er sagt, es könne nur verteilt werden, was erwirtschaftet wurde. Die 100 Milliarden Rüstungsausgaben mögen in der Stunde der Not unausweichlich gewesen sein. Aber die Liberalen haben ihr Wahlkampfmotto „Nie gab es mehr zu tun” sicher anders gemeint, als sämtliche Finanzlöcher zu stopfen, die sich auftun.
Zum dritten wissen alle Beteiligten: Die Krise ist da, sie ist riesig, und sie muss angenommen werden. Neuwahlen wegen schlechter Stimmung sind nicht nur keine Option. Sie wären eine innenpolitische Kapitulationserklärung und würden Deutschland außenpolitisch als schwach erscheinen lassen. Aufgeben gilt also nicht.
Die wichtigen Ressorts hat die FDP
Die Ampel ist als eine Art Projekt-Bündnis angetreten: Sozialpolitik macht die SPD, Klima die Grünen, und die Liberalen beweisen, wie der Staat verschlankt wird und trotzdem sozial bleibt. Die Realität kaum ein Jahr nach dem Wahltag ist eine, die keine der drei Parteien auf dem Zettel hatte. Dass sich die FDP als kleinster Partner weniger kompromissbereit zeigt als die anderen, ist nicht allzu verwunderlich. Von ihrem respektablen Wahlergebnis von 11,5 Prozent ist sie auf 7 Prozent in den Umfragen gerutscht. Wer so besorgniserregende Werte aufweist, wird schon mal ungehalten.
Dennoch: Wer behauptet, Grüne und SPD hätten die bedeutenderen Ressorts, liegt falsch. Finanzen sowie Verkehr und Digitalisierung sind so wichtig wie nie. Es ist an den jeweiligen Amtsinhabern, ihre Ministerien zum Glänzen zu bringen, statt sich zu beklagen. Wer streitet, fliegt raus. Niemand weiß das besser als FDP-Chef Lindner.
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