Wenige Tage vor der Bundestagswahl wird es noch einmal rangelig. Bündnisgrüne und FDP stellen auf ihren Parteitagen selbstbewusst Forderungen für Regierungsbündnisse, während SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz mit einem Mindestlohn-Versprechen und garantiertem Renteneintrittsalter schon mal rote Koalitions-Linien zieht. Und bei der Union raunt der Grandseigneur Wolfgang Schäuble, Armin Laschets schlechte Zustimmungswerte gingen auch auf das Konto der Kanzlerin: Für ein glaubhaftes Aufbruchsversprechen der Union hätte sie den Parteivorsitz nicht abgeben dürfen. Nun ja.
Man spürt, dass auf allen Seiten der verbindliche Ton zurückgedreht wird zugunsten unmissverständlicher Botschaften an die Wählerinnen und Wähler. Und trotzdem darf man dieser Bundestagswahl deutlich entspannter entgegensehen als der vor vier Jahren. Denn die Themen haben sich geändert, der Wunsch nach Veränderung ist deutlicher als 2017. Und anders als vor vier Jahren blicken diesmal nicht alle gebannt auf das Abschneiden der AfD, die erstmals vor dem Einzug ins Parlament stand.
Der Wunsch nach einem konstruktiven Miteinander
Wie auch immer diesmal das Ergebnis sein wird, welche Koalition sich finden mag – Deutschland muss keine Angst vor einer autoritären Regierung haben. Das ist ermutigend.
Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, ist in anderen Ländern bereits außer Kraft gesetzt oder in Gefahr. Anders als etwa in Ungarn oder Polen appellieren die Spitzenkandidaten nicht an das Nationalgefühl; hierzulande ist das Wahlverhalten überwiegend gekennzeichnet vom Wunsch nach konstruktivem Miteinander und der Fähigkeit zum Kompromiss. Im Gegensatz zum US-Wahlkampf begegnen die Kandidaten einander mit Respekt: Kritik in der Sache gerne, Herabwürdigungen und Fake News nein. Und anders als in Russland, wo am Wochenende ein neues Parlament gewählt worden ist, können Medien frei berichten. Vieles, was uns selbstverständlich erscheint, ist es andernorts auf der Welt nicht mehr.
Die Pandemie hat die Schwachstellen sichtbarer gemacht
An den Küchentischen im Land wird munter diskutiert. Es geht um Klima, Rente und Steuern. Das Megathema Zuwanderung, das noch 2017 die Gemüter erhitzt hat, ist abgelöst worden von einer globalen Pandemie. Covid-19 ist ein großer Gleichmacher, das Virus betrifft jede und jeden. Es stellt konkret Solidarität und Aufklärung auf die Probe. Und es zeigt ohne Rücksicht auf politische Präferenzen die Schwachstellen der Politik und ihrer Institutionen auf.
In den zurückliegenden anderthalb Jahren hat das Kleinklein zwischen den Bundesländern zu einem Verordnungs- und Regelungschaos geführt, auch ausgelöst von der Bundespolitik. Fehlende Masken, alte Menschen in Isolation, Terminchaos bei den Impfungen, Fax-Technik in den Gesundheitsämtern, überforderte Schüler und Lehrer – die Liste der Zumutungen ist lang. Nie ist so deutlich geworden, woran es in diesem überregulierten und unterperformenden Land überall fehlt und welche Folgen dies für alle hat.
Die jungen Generationen sind in der Unterzahl
Und als wäre das alles nicht schon kompliziert genug, ist in diesem Wahlkampfsommer das Thema Klima noch dringlicher geworden. Zum einen wegen der Hochwasserkatastrophe im Juli, bei der mindestens 183 Menschen gestorben sind und sehr viele ihr Hab und Gut verloren haben. Zum anderen, weil die Klimawende zum Generationenthema geworden ist. Grob gesagt, steht eine jüngere Minderheit einer älteren Mehrheitsgesellschaft gegenüber. Die Babyboomer sind auf dem Höhepunkt ihrer Kraft, sie besetzen einflussreiche Posten in Politik und Gesellschaft. Doch den Millennials, von denen viele 2021 erstmals wählen dürfen, läuft die Zeit davon. Entsprechend kompromisslos sind die Positionen etwa von Fridays for Future. Die Grünen haben das richtig erkannt, ihre Kampagne richtet sich an die Jüngeren im Land. Doch die sind in der Unterzahl.
Die Themen liegen also auf dem Tisch. Und ganz sicher werden sich nach dem Wahltag Parteien finden, die sie miteinander angehen wollen. Ob Ampel oder Jamaika, Kenia oder Schwarzrotgold – keines dieser Bündnisse würde das Land zu einem schlechteren Ort machen. Der Wunsch der Wähler nach Veränderung ist spürbar, der Wille der Politik ebenso. Und das ist auch gut so.
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