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Invasion der Marienkäfer

Aktuell gibt es eine regelrechte Invasion der Marienkäfer. Das wundert viele, für die moderne Medizin könnten die Insekten aber ein Glücksfall sein.
Gerade im Herbst scheint es mancherorts eine regelrechte Marienkäfer-Invasion zu geben. (Foto: Alexandre Debiève)
Gerade im Herbst scheint es mancherorts eine regelrechte Marienkäfer-Invasion zu geben. (Foto: Alexandre Debiève)

Ausgerechnet Anfang November, an den voraussichtlich letzten warmen, sonnigen Tagen, wimmelt es in rot, orange und schwarz. Wer nur kurz das Fenster aufstehen lässt, bekommt von ihnen Besuch: Marienkäfer sammeln sich in Massen, es wirkt fast schon wie eine Invasion. Warum? Ein Anruf bei Professor Andreas Vilcinskas, Insektenforscher. Plötzlich steckt man mittendrin in einer Geschichte über Kannibalismus, Käfer, in denen Medizin steckt – und Zukunftsmärkte.

Vilcinskas leitet das Institut für Insektenbiotechnologie an der Universität Gießen – und ist gefragt in diesen Tagen. Aus der ganzen Republik melden sich Leute bei ihm, er kennt das schon. Den Sommer haben die Marienkäfer auf den Wiesen und in den Büschen verbracht. Im Herbst, sobald die Nächte frostig werden, suchen sie sich einen Platz zum Überwintern. Aber das ist dann doch ein unerwarteter Rekord: „In der Nähe von Augsburg steht ein Haus, da tummeln sich derzeit 300.000 Marienkäfer – stellen Sie sich das mal vor!”

Kannibalismus in der Käferwelt

Vilcinskas weiß sofort: Das sind keine der heimischen Marienkäfer, zu denen etwa der Sieben-Punkt-Marienkäfer gehört, der klassische Glücksbringer. Der ist zumeist allein unterwegs. Es ist der Asiatische Marienkäfer, eine W-förmigen Zeichnung am Kopf, meist 19 Punkte, von orangerot bis schwarz gefärbt. Er, der auch Harlekin-Marienkäfer heißt, ist nicht gerade zimperlich. Sein Kampf gegen europäische Verwandte ist rücksichtslos.

Viele Marienkäfer sind Kannibalen, sie machen sich über die Eier und Larven von verwandten Arten her. Nur: Der Asiatische Marienkäfer verzehrt den Nachwuchs der heimischen Arten ohne Probleme. Gehen heimische Arten aber zum Gegenangriff über und vertilgen die Nachkömmlinge des Asiatischen Marienkäfers, dann sterben sie daran.

Bis zu dreimal Nachwuchs im Jahr

Rätselhaft fand Vilcinskas das. Was macht den asiatischen Käfer so stark, der in den 1950er Jahren absichtlich in Europa eingeführt wurde, weil er am Tag rund 200 lästige Blattläuse vertilgt? Mittlerweile tummelt sich das Insekt sogar in Südamerika und Südafrika. Seit dem Ende des Jahrtausends macht er sich auch in Deutschland breit. Anders als die einheimischen Arten bekommt der Asiatische Marienkäfer nicht nur einmal im Jahr Nachwuchs, sondern bis zu dreimal. Aber nicht nur das zeichnet ihn aus.

Parasiten im Blut

Vilcinskas ging einer These nach, die zwei US-amerikanische Wissenschaftler aufgestellt hatten: Arten, die eine fremde Welt erobern – die Fachleute sprechen von invasiven Arten – müssen ein besonders gutes Immunsystem haben. Denn in den Gebieten, in die sie vorstoßen, gibt es andere Krankheitserreger als in ihrer alten Welt. Sie müssen sie abwehren können, obwohl sie diese nicht kennen, sich nicht anpassen konnten. Darum untersuchten Vilcinskas und seine Gießener Forscherkollegen das Blut der asiatischen Marienkäfer, die sogenannte Hämolymphe.

Sie stießen im Blut auf Parasiten, also Bakterien und Pilze, die selten Gutes haben, sondern Krankheiten bringen. Und zwar auf viele. „Die Hämolymphe war voll davon, das hatte ich zuvor noch nie gesehen.” Vilcinskas staunte. Die asiatischen Käfer waren trotz der Parasiten gesund. Offenbar können sie diese als eine Art tödliche Biowaffe gegen ihre Konkurrenten nutzen. Denn die heimischen Marienkäfer werden durch die Parasiten getötet. Das heißt zugleich: Der Asiatische Marienkäfer selbst muss Abwehrstoffe gegen sie haben. Entscheidende Frage für die Gießener Forscher: Könnten die auch dem Menschen gegen Krankheitserreger helfen?

Dem gingen sie nach und fanden Harmonin. Dies bauten sie dann im Labor nach, um es in größeren Mengen zu testen. Dabei zeigte sich: Die Substanz hilft gegen Malaria und die Tropenkrankheiten Bilharziose und Leishmaniose. Und noch etwas fanden die Forscher: antimikrobielle Peptide, kleine Eiweiße, die gegen Bakterien und Pilze wirken. Die hat auch jeder Mensch, der Käfer aber so viele verschiedene davon wie noch nie in einem Organismus gefunden wurde. Einige von ihnen können womöglich Lungenentzündungen heilen. Tests laufen.

Großes Potenzial für die moderne Medizin

„Der Marienkäfer ist eine Naturbibliothek und eine große Chance für die Medikamentenherstellung”, sagt Vilcinskas. Er erweise sich als Glück für ihn und sein Forschungsgebiet – die sogenannte gelbe Biotechnologie. Mit ihr werde untersucht, was sich von der Natur für die Medizin, aber auch für den Pflanzenschutz oder die Industrie lernen lasse. Derzeit baut Vilcinskas Gießen einen ganzen Bereich „Bioressourcen” am Fraunhofer-Instituts für Molekularbiologie und Angewandte Ökologie auf. Das Logo: ein Marienkäfer.

Für den Menschen seien die Asiatischen Marienkäfer, die im Herbst in die Wohnungen kämen, um dort zu überwintern, nicht gefährlich, sagt er. Viele saugten sie mit dem Staubsauger auf. Besser sei es, sie vorsichtig hinauszubefördern, etwa mit einem Handfeger. In diesen Tagen sammelten sich die Sechsbeiner oft an Hauswänden, die von der Sonne bestrahlt werden und lockten mit Duftstoffen ihre Artgenossen an. So kämen schon mal tausende Käfer wie bei einer Invasion zusammen. Das Schwirren durch die Luft sei aber vorbei, sobald es kalt werde.

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